Obcina bedeutet nicht mehr und nicht weniger "Anhöhe".

Das "Obcina", von dem ich hier sprechen werde, liegt etwa drei Stunden Fußweg entfernt von unserem Gästehaus, und gehört zu den idyllischsten Flecken Erde nicht nur in der Maramures.

Meine Hoffnung ist es, Obcina wirklich interessierten Menschen zugänglich zu machen. Damit meine ich wenigstens zwei Dinge gleichzeitig:
Zum Einem soll der versteckt gelegene Ort auch nach unseren Besuchen ein versteckt gelegener Ort bleiben.

Zum Anderem müssen wir bedenken, dass unser Besuch in Obcina nicht ohne Auswirkungen auf die dort lebenden Bewohner bleiben kann. Somit müssen wir uns Gedanken um den Sinn eines Besuches bei ihnen machen.

Der Weg hinauf nach Obcina führt durch eine alte Kulturlandschaft von europäischem Rang. Der florale Reichtum der Wiesen und Weiden gilt unter Fachleuten als einmalig. Wie man inzwischen weiß und warnt, ist er unwiederbringlich. Unzählige, fleißige Generationen von Bauern- und Hirtenfamilien haben diese Landschaft geschaffen. Jahr für Jahr sensen sie ihren kleinen aber wertvollen Besitz.
Seit einigen Jahren verändert sich jedoch die Situation, und zwar nachhaltig. Die überwiegend der ruthenischer Nationalität zugehörigen Bewohner dieser Höhenlage (ab 1000 Metern) verlieren allmählich das Interesse an ihren Wiesen und Häusern. Sie sagen zwar selbst, dass es ihnen dort immer noch gefällt, dass sie die Ruhe und Abgeschiedenheit zu schätzen wissen, und ihnen anderen Orts die gute Luft zum Atmen und das gesunde Wasser zum Trinken von Obcina sehr fehlen, doch sagen sie auch, dass sie von dieser Arbeit nicht mehr leben können und leben wollen. In Obcina zu leben bedeutet, auf materiellen Komfort zu verzichten.
Es leben trotz Abwanderung immer noch ruthenische Familien in Obcina. Der Kinderreichtum der Ruthenen ist in Rumänien sprichwörtlich. So trifft man zur Freude der Besucher in Obcina immer noch auf Kinder. Sie haben sich mittlerweile daran gewöhnt, dass ich nun viele Male im Jahr Besucher "mitbringe".
Den Kindern sieht man an, dass sie nicht zu den Verwöhnten dieser Welt gehören. Die Eltern sind selten zu Hause, denn sie arbeiten in der Nähe auf den Feldern. Sie bauen Kartoffeln an, ziehen ein paar Zwiebeln groß und freuen sich dann im Stillen über jede Abwechslung, die ihren Kindern zuteil wird. Geld, um teure Schokolade für ihre Kinder zu kaufen, haben sie nur zu Ostern oder Weihnachten.
Seit meinen ersten Besuchen in Obcina lege ich Wert darauf, dass Jeder, der sich auf den Weg nach Obcina macht, ein Gastgeschenk dabei hat! Es gibt viele Geschenkideen, man muss sie nur dabei haben!
Es gibt auch in Obcina Kinder, deren Eltern seit Jahren im Ausland arbeiten. Sie leben dann als Anhängsel bei Verwandten, in oft schon sehr kinderreichen Familien. Keines der Kinder leidet an Unterernährung. Die sanitäre Situation, in der sie sich befinden, ist allerdings katastrophal. Um ihre gesundheitliche Versorgung steht es auch nicht besser. Wer sich mit Kindern auskennt, wird in ihren Blicken und Gesten sofort erkennen, dass sie zwar zu spielen verstehen, die Mädchen aber schon viel zu früh mit häuslichen Arbeiten konfrontiert werden. Die Jungs können mit knapp 10 Jahren bereits Sensen oder das Vieh versorgen, sie wissen zu Melken, und, besonders erstaunlich, ich kenne in Obcina Jungen, die es mit 12 Jahren schon verstehen, Schweine und Schafe zu schlachten.
Für den Glücklichen, der bei schönem Wetter Obcina erleben kann, bieten sich zahlreiche, unvergessliche Blicke in die Umgebung. Die umliegenden Berge erreichen alle knapp 2000 Meter. In alle Himmelsrichtungen schauend, hat man die Bergwelt der Maramures vor sich.
Obcina markiert ethnologisch betrachtet den Übergang von einer Streusiedlung zum Haufendorf. Die damit erzielte Verdichtung der Siedlungsstruktur macht den besonderen Reiz dieser Siedlung aus. Überall finden sich Stallungen, Scheunen und die schönen, für Ruthenen typischen Wohnhäuser. Dabei wurde kein Haus rein zufällig errichtet, so, wie auch kein Weg ins Nichts führt. Alles unterliegt einem uns verborgenem, planvollem Denken und Handeln, befindet sich seit Jahrzehnten in ständigem Wechsel und Gedeihen. Auch nach der einsetzenden Abwanderung erweckt der Ort in den fünf Sommermonaten von Mai bis September einen lebendigen Eindruck, trifft man die Ruthenen immer wieder beim Sensen und Harken und bei der Feldarbeit.
Eine augenfällige und gleichermaßen reizvolle Besonderheit Obcinas ist die gepflegte Gesamtanlage. Kein Grashalm verblüht unbeachtet im Schatten eines Feldes, so, wie auch kein Baumstamm ungenutzt vor sich hinfault. Alles wird benötigt und somit gepflegt. Die Kartoffelacker sind zum Schutz gegen Wildfrass umzäunt, und selbst die Heuschober werden sorgsam geschützt. Die Häuser sind schon von Aussen betrachtet eine Augenweide, oft Schindelgedeckt und gänzlich aus Holz gebaut.
Eine überwiegende Zahl der Höfe sind in ihrer Anlage klassisch aufgebaut. Unter einem Dach befinden sich alle schutzbedürftigen Wesen, also Tiere und Menschen. In den düsteren Jahres- und Tageszeiten müssen nicht selten Jungtiere mit in die ganzjährig geheizten Stuben geholt werden. Nicht selten bieten sie auch uns Besuchern Schutz in ihren Häusern an, und wir sind dann mehr als dankbar, ein plötzlich hereinbrechendes Gewitter mit ihnen gemeinsam abwarten zu können. Dann teilen sie wie selbstverständlich ihr Essen mit uns oder spielen auf ihren Flöten oder Maultrommeln.
Das Wetter wechselt in den Bergen sehr schnell. Ein klarer und sonniger Vormittag weicht plötzlich gegen Mittag einem heftigen Regenguss und schon kurz darauf steigen die für die Karpaten so bekannten Nebelbänke auf.

Jeder ist gut beraten, seine besten Wanderschuhe und gute Regenbekleidung bei zu haben.

Meine jahrelangen Kontakte zu den Bewohnern Obcinas haben Vertrauen schaffen können. Sie sind von Natur aus Fremden gegenüber ein wenig kontaktscheu, doch nie abweisend. Wort für Wort habe ich mich mit ihnen angefreundet, von ihrem Leben und Sorgen erzählt bekommen. Ein faszinierendes Ergebnis dieser jahrelangen Begegnungen ist meine vielfach ausgezeichnete Ruthenische Trilogie (am Ende des Textes finden Sie in diesem Zusammenhang einen Link-Hinweis). "Obcina", "Kinderberg" und die "Dritte Violine" sind Filme, die ich Jedem, der sich für diese Menschen und Obcina interessiert, nur empfehlen kann.

Oft werde ich in Obcina zu Dingen befragt, die ich ihnen auch nicht wirklich erklären kann. Der EU-Beitritt Rumäniens hat viele Menschen verwirrt und enttäuscht zurückgelassen. Niemand hat ernsthaft ihre Fragen und Ängste bedacht, und so müssen sie nun mit schwindender Hoffnung erleben, dass ihre Arbeit immer weniger Gewinn abwirft, und sie sich am Ende selbst überlassen reine Selbstversorger geworden sind. Sie verstehen nicht, warum ihre schwere Arbeit ihnen kaum noch das Überleben garantieren kann.

Mir liegt es fern, mich mit klugen Antworten oder gar tiefsinnigen Schuldzuweisungen aus der Situation herauszuhalten. Die Welt bleibt auch von Obcina betrachtet nicht einfacher zu verstehen.

Angesichts der naiven aber irgendwie klaren Fragen, manchmal nur neugierigen Blicke der Menschen von Obcina kommt man aber zu der Erkenntnis, dass wir zwar besser gekleidet sind, mehr Auswahl an Essen haben, und viele von uns andere Horizonte gesehen haben, doch auch wir genauso fragend in uns hineinlauschen. Unsere Antworten bleiben meißt ihre Fragen und ihre Antworten nehmen wir als Fragen wieder mit nach unten.

Wir wissen auch nach Obcina nicht wirklich mehr Von- und Übereinander. Doch wir haben es wenigstens einmal Miteinander versucht.

Die "Ruthenische Trilogie" mit den Dokumentarfilmen über das außergewöhnliche Bergdorf Obcina. Bei Interesse schauen Sie sich die Trailer zu den 3 Filmen an.
Für 5 Euro pro Film können Sie einzelne Filme oder für 15 Euro die komplette Trilogie downloaden.