Leseprobe "Limes. Flucht über die Berge"

Es war einmal ein Tag, und auch der begann wie üblich mit einem tiefen Seufzer. Frischer Schnee hatte sich in der Nacht an den schlecht verglasten Fenstern zu schaffen gemacht. Und zwar so, als versuche er eine Handvoll Familien in ihren kleinen Holzhäusern daran zu erinnern, dass sie bis zum Frühling noch wochenlang Eiskristalle zu zählen hätten. Falls überhaupt alle zählen konnten. Es war nicht selbstverständlich davon auszugehen, dass mit der Muttermilch auch das Einmaleins wie ein Geschenk Gottes vom Himmel gefallen kam. Wie überhaupt sehr selten Gutes aus dieser Richtung zu erwarten war. Das wenige, das sie zum Leben benötigten, hatten ihre Vorfahren schon vor Jahrhunderten mühsam auf den Berg getragen. So galt seither als ein oberstes und selbstverständlich ungeschriebenes Gesetz, Hab und Gut zu schützen und so lange wie möglich zu erhalten. Von außen betrachtet drehte sich das Leben auf diesem Berg im Kreis, was es letztendlich auch von innen betrachtet tat, weshalb sich niemand die Mühe machte, sein Leben ernst zu nehmen oder es in Frage zu stellen. Es kam auch niemand auf die Idee, Klügere zu fragen, denn es gab weit und breit niemanden, der klug genug gewesen wäre, darauf eine Antwort zu geben. Und so begannen alle Tage nicht nur mit einem Seufzer, sondern endeten auch damit.

Unruhiger wurde es am Tag der Geburt des kleinen Stefan, wie er später genannt werden sollte. Genauer gesagt, schon in der Nacht zuvor. Wie immer hatte man sich zu spät auszurechnen entschlossen, wann den Gesetzen der Natur entsprechend das Kind zur Welt kommen würde. Auch dieser Tag, wie so viele andere, sollte dem Schicksal überlassen werden. Er würde schon auf die Welt kommen, tot oder besser lebendig, daran bestand kein Zweifel. Und zur Eile bestand auch kein Anlass. Hatten es doch ein halbes dutzend Geschwister vor ihm auch lebend und wie von selbst auf diese Welt geschafft. Wozu also rechnen, planen und die wenigen Nachbarn, womöglich noch umsonst, alarmieren. Es würde sich mit Gottes Willen alles fügen, tägliches Beten vorausgesetzt.
So erwachte in der nächtlichen Stille der erste, einer Wehe entsprungene Schrei. Er kroch durch die Dunkelheit wie ein Wolfsgeheul, so dass die vor Kälte noch starren und in sich gerollten Hofhunde augenblicklich aufsprangen und wütend und laut bellend anschlugen. In der Stube des Hauses wurden zwei altersschwache und vom ersten Tag an rußende Petroleumlampen entzündet. Timoftei schob sich mit seinen müden Knochen aus dem Holzhaus. Mit der rußenden Lampe in der einen, und einem verbeulten und in die Jahre gekommenen Wassereimer in der anderen Hand wollte er zur hinterm Hof am Berghang gelegenen Wasserquelle.
Der eigentliche Bauernhof war klein und das Holzhaus aus nicht ersichtlichen Gründen geradezu winzig geraten. Doch als wäre einst ein Kastell konzipiert worden, lag der Hof oben auf der Flanke eines Berges. Die angespitzten und im Laufe der Jahre windschief geneigten, scheinbar tanzenden und sich in der Tiefe mehrfach staffelnden Zaunreihen erweckten schon von Weitem den Eindruck, auf morsche Reste einer altertümlichen Verteidigungsanlage zu stoßen. Vor dem Haus öffnete sich ein atemberaubendes Bergpanorama, und wer Muße und Zeit fand, konnte über viele Kilometer hinweg bis weit hinunter ins Tal und hinüber zu den sich am Horizont staffelnden Gebirgszügen der Waldkarpaten schauen.
Als ein zweiter Schrei seiner Frau und kurz darauf das vom gegenü-berliegenden Bergkamm zurückgeworfene Echo Timoftei erreichten, blieb er stehen und drehte sich, als würde er nicht glauben was er hören musste, in die Richtung des Hauses. Er dachte kurz nach und kam zu dem Schluss, dass es diesmal schwerer werden würde. Nachdem die Geburten in den ersten Ehejahren fast unbemerkt ver-liefen, hatten sich ihm die zwei letzten als deutlich unruhiger eingeprägt. Er bekreuzigte sich kurz und schritt, nun etwas schneller, den abschüssigen Weg zur Quelle hinab. Seit ein paar Wochen war der von seinen Kühen und Schafen benutzte Weg hartgefroren und lief sich nun vergleichsweise einfach. Im regenreichen Herbst hatten sich vom täglichen Getrampel der Hufe tief ausgetretene Schlammfurchen gebildet. Nur selten bot sich nachts die Möglichkeit, den rutschigen Weg mit einer Petroleumlampe auszuleuchten. Aus unerklärlichen Gründen war Petroleum die letzte Mangelware seit dem Ende des Kommunismus geblieben. Er tröstete sich damit, dass er sich ja hin und wieder auf das Mondlicht verlassen oder an den Sternen orientieren konnte.
Die Nächte auf seinem Berg, der mit tausend Metern Höhe gerade noch als ganzjährig bewohnbar galt, waren auch in diesem Winter wieder so kalt, wie sie die alten Huzulen aus der Erinnerung beschrieben. Der Schnee unter seinen Gummistiefeln knirschte. Mit leisem Stöhnen erreichte Timoftei die letzte noch nicht gänzlich zugefrorene Quelle der Umgebung und versuchte, in der Nähe einen Knüppel zum Aufschlagen des sich über Nacht erneut gebildeten Eispanzers zu finden. Der Schein seiner Petroleumlampe reichte nicht annähernd aus, den Umkreis der Quelle tiefer als zwei Meter auszuleuchten. Seit Wochen wollte er sich einen guten Knüppel bereitlegen, doch war immer etwas dazwischen gekommen. So tastete er, auf allen vieren kriechend, die unmittelbare Umgebung nach etwas Brauchbarem ab. Um ein Haar wäre er dabei fast mit dem linken Fuß in das halbzugefrorene Loch der Quelle gerutscht. Er war nur froh, dass ihn bei der Suche niemand beobachten konnte. Gerade als ihm ein böser Fluch über die Lippen kam und ein dritter Schrei seiner Frau aus der Ferne zu ihm drang, erwischte er einen geeigneten Stock. Mit einem gezieltem Schlag zerbrach er gekonnt die Eisplatte und so gelang es ihm, den Eimer durch das enge Loch zu bugsieren und mit eiskaltem Wasser zu füllen. Er griff nach seiner neben dem Eisloch abgestellten Lampe und beeilte sich, ohne Wasser zu verschütten wieder zum Haus zu gelangen. Sein linker Fuß schmerzte ihn jetzt so, dass er humpelnd und um einen Rest Gleichgewicht kämpfend mit letzter Kraft die Türschwelle erreichte. Durch die von innen vereisten Scheiben der Tür konnte er schemenhaft seine Frau erkennen. Sie kniete, sichtlich nicht mehr ganz jung, vor der seit Ewigkeiten schief hängenden Ofenklappe und blies ausdauernd in die noch vom letzten Feuer verbliebene Glut. Ein paar Funken stoben auseinander und gerade als Timoftei die Tür öffnete, fingen die dünnen Scheite erste Flammen. Er stellte den Eimer auf ein kleines Bänkchen neben dem gut ein Drittel des Raumes einnehmenden Ofen und ging hinüber zum zwischen zwei Betten stehenden Tisch. Viel Platz zum Umherlaufen gab es in diesem Zimmer nicht. Seine Frau hatte in der Zwischenzeit ihren größten Topf hervorgeholt, den sie jetzt auf die Ofenplatte stellte. Timoftei ging zurück zum Blecheimer, hob ihn hoch und füllte mit eiskaltem Wasser den Topf bis zum Rand. Die Flammen hatten sich bereits weiter durch die Holzscheite gefressen, und das flackernde Licht aus dem Feuerloch erleuchtete nun den dämmrigen Raum. Seine Frau kroch zurück auf das Bett. Besorgt aber wortlos setzte sich Timoftei ihr gegenüber auf sein Bett und schaute gedankenverloren aus dem kleinen Fenster. Auf dem Fensterbrett stand eine in die Jahre gekommene Uhr, auf deren Zifferblatt sich ein ziemlich verbogener Stundenzeiger mühsam vor sich hindrehte. Mit etwas Erfahrung konnten sie die Uhrzeit ablesen und darüber hinaus mit Glück sogar abschätzen, wie viel Zeit ihnen zwischen den angezeigten Stunden noch bleiben oder, je nach Stimmungslage, wieder vergangen war. Vermutlich würde es in einer halben Stunde sieben Uhr sein, was in ihrer Lesart bedeutete, dass seit sechs Uhr wieder eine halbe Stunde vergangen war. Höchste Zeit also, um die Kühe zu melken und ihnen die morgendliche Ration Heu zu geben. Das tägliche Leben war zwischen ihnen so eingespielt, dass alle Arbeiten ohne Absprachen erledigt werden konnten. Seitdem die Kinder nicht mehr zu Hause lebten, wussten beide genau, was sie zu tun oder besser zu lassen hatten. Nur heute würde es anders laufen, daran bestand kein Zweifel. Timoftei schaute nach dem Feuer und schob noch ein paar Scheite nach. Dann prüfte er die Temperatur des Wassers, in dem er kurz seine Finger hinein tauchte. Es würde in zwanzig Minuten ausreichend warm sein. Nach einem schnellen Blick hinüber zu seiner Frau wusste er, dass diese Zeit genutzt werden musste, um die Arbeit im Stall zu erledigen. Motria war nun seitlich liegend in sich zusammengekrümmt an den Bettrand gerutscht. Ihr standen Schweißperlen auf der Stirn. Die ersten Wehen schienen vorerst abgeklungen zu sein - dachte er. So griff er sich einen weiteren Eimer, von denen es im Haus genug gab, und ging abermals mit der rußenden Petroleumlampe hinaus in die Kälte und hinüber zum Stall. Auf dem Weg sah er, dass in einem der drei benachbarten Holzhäuser ebenfalls ein Licht brannte. Das Leben regte sich noch in Obcina, wie die kleine Bergsiedlung von ihren Bewohnern genannt wurde. Es würde wieder so ein in Wolken steckengebliebener Tag werden. Wieder ein Tag von vielen, an denen alles scheinbar nur geschah, um kurz darauf wieder vergessen zu werden.

Wie soll man früh aufstehen, wenn man gerade erst ins Bett gegan-gen war? So verliefen die Tage schon seit Wochen und ein Ende seines auf dem Kopf gestellten Lebens war nicht in Sicht. Seit Jahren verkroch er sich in Unmengen von Literatur über die Geschichte der Antike, worunter zusehend sein Privatleben litt. Von seinem Intimleben mal ganz zu schweigen. Er war auf dem schlechten Weg, sich in den vielen Details seiner Recherchen zu verlieren, wusste aber, dass er schon bald eine Reise machen würde. Er wusste auch, wohin ihn diese Reise führte. Doch gab es etwas, was er zu diesem Zeitpunkt noch nicht absehen konnte. Hätte er nur geahnt, in was für Katastrophen alles führen würde, wäre er niemals zu dieser Reise aufgebrochen.
Doch vorerst hatte er noch einen entscheidenden Schritt zu gehen, und genau das beunruhigte ihn. Mit dieser inneren Unruhe versuchte Frank Schlaf zu finden. Er wälzte sich von einer Seite auf die andere, jedoch ohne Erfolg. Die Müdigkeit war da, aber der Schlaf wollte sich nicht einstellen. Ihn störten plötzlich viele Kleinigkeiten und all diese Kleinigkeiten schwärmten wie Satelliten in seinem Kopf. Er schaute auf die Uhr und überlegte, ob die Apotheke an der Ecke schon geöffnet haben würde. Blitzschnell sprang er aus dem Bett, warf sich die Jacke über und stolperte die Stufen hinunter. Draußen empfing ihn der morgendliche Berufsverkehr. Wie ein übermüdeter Nachtschichtler, der noch überlegte, ob er sich nicht besser gleich zum Frühschoppen mit seinen Kumpels treffen solle als nach Hause zu gehen, bog er rechts ab und steuerte direkt auf die Apotheke zu. Natürlich hatten sie Schlaftabletten, und wie immer lagen sie gleich neben der Kasse. Er kaufte sich vorsichtshalber zwei Pakete. Noch auf dem Rückweg riss er die erste Packung auf und schluckte gleich zwei Tabletten auf einmal hinunter. In seiner Wohnung angekom-men, füllte er sich ein Wasserglas und spülte mit zeitlicher Verzögerung nach. Wenig später, nachdem er noch ein paar Runden dem Sekundenzeiger seines Weckers zu folgen versuchte, schlief er endlich ein. Es war nur noch das leichte Surren seines Computers und ein von draußen hereindringendes, verschwommenes Brummen des mehr und mehr nachlassenden, hauptstädtischen Berufsverkehr zu hören.

Es gab sie noch, die Zwangsheirat in den Waldkarpaten. Wenn jemand, wie Maria, aus sehr armen Verhältnissen stammte, hatte man sowieso keine Wahl. Wurde sie gefragt, ob sie einverstanden sein würde? Es ging ihren Eltern nur darum, einen Esser weniger im Hause zu haben. Diesem Ziel wurde ihr persönliches Glück untergeordnet. Dabei war sie von Geburt an ein fröhliches Mädchen gewe-sen. Es war ihr nicht anzumerken, dass sie kein Spielzeug kannte. Sie vermisste es auch nicht, denn niemand in ihrer Umgebung besaß etwas Derartiges. Auch die Jungs spielten mit selbstgebauten Sachen. Ihrem Erfindungsreichtum waren keine Grenzen gesetzt. Und falls etwas zerbrach oder verschwand, konnte man es schnell wieder ersetzen. Den Eltern war es nur recht und billig. Das wenige Geld benötigten sie für Essen und Kleidung, denn alle paar Monate wurde es in den Bergen entweder sehr kalt oder sehr nass. Im Sommer ließen sie ihre Kinder fast unbekleidet und wie Wölfe durch die Berge streifen. Maria trug dann eine knielange Hose, in dessen Hosentaschen sich nichts verstecken ließ, weil alle Nähte aufgerissen waren. Die guten Schuhe wurden im Sommer in einer Truhe auf dem Dachboden weggeschlossen, damit sie wenigsten noch in den ersten Herbstwochen zu gebrauchen waren. Immer wenn sie aus ihren verhassten Schuhen rausgewachsen war, wurden sie an jüngere Ge-schwister weitergegeben. So war sie größer geworden, wuchs sozusagen von einem Schuh in den anderen, oft mit hungrigem Magen und ohne irgendwelche persönlichen Besitztümer. Schnell hatte sie diesem Teufelskreis zu entkommen versucht, und ihr Schicksal in die eigenen Hände nehmen wollen. Dabei hätte ihr rückenlanges, blonde Haar und das, wie eine Fata Morgana das Morgenland versprechende, zarte Gesicht helfen können. Ihre aufgeweckten, bläulich schimmernden Augen brachten jedes Jungenherz zum Klingen. Je reifer und schöner sie wurde, umso mehr erschien es ihr, als würde zwischen all den sie beobachtenden Jungen ein mehrstimmiger Glockenton erklingen. Doch befand sich bei ihren Spaziergängen immer wenigstens ein Familienmitglied in der Nähe, so dass sich das kleinste Techtelmechtel schon vor ihrer Heimkehr nach Hause rumsprechen würde. Ihr waren die Hände gebunden und, symbolisch gesprochen, mit zunehmendem Alter auch die Füße. Immer mehr Aufgaben wurden ihr aufgetragen, so dass sie kaum noch Gelegenheiten fand, im Dorfzentrum die Herzen der Jungs wie Glocken zum Klingen zu bringen.

Plötzlich war alles ganz schnell gegangen. Eines Tages bemerkte sie den prüfenden Blick eines mit ihrem Vater befreundeten Schäfers auf ihrem Körper. Schneller als sonst wurde die Schnapsflasche herausgeholt und schneller als sonst verschwand ihr Vater mit dem Schäfer in der Stube des Hauses. Unruhig geworden, versuchte sie in die Nähe des Fensters zu gelangen um ein paar Sätze des Gesprächs aufzufangen. Doch die Mutter ertappte sie dabei und schickte sie mit barschen Worten zum Reinigen in den Stall. Noch am Abend wurde ihr von der Mutter mitgeteilt, dass sie Vasile, den Sohn des Schäfers heiraten würde, und sie selbstverständlich, wie ihre Eltern auch, darüber glücklich zu sein habe. Mit dem Vater konnte sie an diesem Abend nicht mehr sprechen, denn er war bereits betrunken und mit einem Grinsen im Gesicht eingeschlafen.

Als Timoftei mit seinem Milcheimer in die Stube zurückkam, hatte es draußen zu dämmern begonnen. Das Melken war ihm schwer von der Hand gegangen, denn die alte und störrisch gewordene Kuh hatte ihre Eigenheiten und ließ sich nur unwillig von anderen als seiner Frau melken. Man musste ihr mit speziell für sie entwickelten Tricks die wenigen Liter geradezu abtrotzen. Fast wäre er wegen ihres ungestümen Wesens vom Melkschemel gestoßen worden. Gott sei Dank war es nochmals gut gegangen und er hoffte insgeheim, dass Motria diese Arbeit wieder schnell übernehmen könnte. Mit solchen Gedanken beschäftigt, war er bis an den Herd gekommen und bemerkte erst jetzt, dass sich in der Zwischenzeit etwas im Zimmer verändert hatte. Er schaute hinüber zum Bett seiner Frau, die sich darin aber nicht zu befinden schien. Wo konnte sie sein? Viele Möglichkeiten im Haus verloren zu gehen, gab es nicht. Sie besaßen keinen Schrank, weshalb er gerne die Bemerkung machte, dass es ein auf frischer Tat ertappter Liebhaber schwer haben würde, sich rasch vor ihm zu verstecken. Aber warum zum Teufel hätte sich seine eigene Frau in ihrem Zustand vor ihm verstecken sollen? Gab es eine doppelte Wand, eine ihm unbekannte Falltür oder gar ein Ofenloch, in das sie hätte kriechen können? Sie konnte sich ja nicht in Luft aufgelöst haben, zumal er davon ausgegangen war, bei seiner Rückkehr eventuell schon auf zwei Menschen im Zimmer zu stoßen. In seiner Verwirrung zog er unsinnigerweise am einzigen, sich im Haus befindlichen Schubfach, das sich in der Zarge des von ihm selbstgebauten Tisches befand. Nichts. Kein Laut war zu hören, nur das Zischen des Wassers auf dem Ofen und das stotternde Ticken des einarmigen Weckers. Er musste sich erst einmal setzen und nachdenken. Viele Möglichkeiten gab es nicht, die seine Frau zur Auswahl hatte. Es war immer noch Winter, das stand fest. Im Winter lebten nur noch eine weitere Familie und der kauzige Radiomann wie sie auf diesem Berg. Die eisigen Temperaturen und der ständige, an Sturm grenzende Wind, hatten immer mehr Bewohner davon überzeugt, das Winterhalbjahr im deutlich wärmeren Tal zu verbringen. Nachdem unten im Tal Strom an die Häuser gelegt worden war und seit ein paar Jahren auch die Farbfernseher billiger wurden, verließen immer mehr Menschen Obcina. Der Tag war nicht mehr weit, an dem er nicht einen Nachbarn zu seinem Tod würde rufen können. Auf dem Weg zur Quelle hatte er noch zwei Hunde gehört. So lange es hier oben Hunde gab, die Bellen, würden sich auch Menschen in ihrer Nähe befinden. Vor zwei Tagen hatte es einen nächtlichen Überfall von Wölfen gegeben. Es gab zum Glück keine Lämmer zu beklagen, aber einen Hund hatten sie sich trotzdem geholt. Gleich nach dem Überfall war die verängstigte Nachbarin, die etwa dreihundert Meter von ihnen entfernt mit ihrem bettlägerigen Ehemann lebte, zu ihnen gekommen. Ohne zu zögern, hatte er ihr seinen zweiten Hund überlassen. Möglicherweise war Motria zu dieser Nachbarin rüber gegangen? Frauen hocken ja immer wieder zusammen und hecken ganz unerwartete Dinge aus. Sollte sie sich in ihrem Zustand zu ihr hinüber geschleppt haben? Doch warum wurde ihm nichts gesagt? Es wäre das erste Mal, dass sie ihr Kind nicht zu Hause zur Welt brächte. Was im Übrigen auch als ein schlechtes Omen anzusehen war, wenn man sein Kind unter einem fremden Dach gebären würde.
Wohl oder übel musste er sie nun suchen gehen. Sie konnte eigentlich nur bei der Nachbarin sein. Bevor er sich selber auf den Weg dorthin machen würde, nahm er schnell noch einen kräftigen Schluck Schnaps aus der unter dem Bett liegenden PET-Flasche. Wer konnte schon vorhersagen, was ihn vielleicht schon in fünf Minuten erwarten würde? Man musste auf alles vorbereitet sein.
Da es draußen inzwischen deutlich heller geworden war, ließen sich im Schnee Fußabdrücke erkennen. Waren das Motrias Spuren? Aber sie nahmen eine andere Richtung als die zur Nachbarin und sie waren blutig! Was in Gottes Namen ging hier vor? Mit leicht zittrigen Knien folgte er nun der neuen Spur. Weit wird sie in diesem Zustand nicht gekommen sein, darauf deuteten allein schon die immer zahl-reicher werdenden Blutflecken im Schnee hin. Inzwischen hatte sich auch sein Hund lautstark zurück gemeldet. Sein Bellen zielte genau in die Richtung, in der sich die Spuren verloren. Timoftei wusste, dass sich hinter dem Schafstall ein kleines Waldstückchen befand, in dem sich Wölfe versteckten konnten. Er hätte es längst abholzen sollen! Sein Herz begann heftiger zu schlagen und er bereute seine Unachtsamkeit, sich nicht eine Axt gegriffen zu haben.
Öfters schon war es zu einer Begegnung mit Wölfen gekommen, daran konnte er sich mehr als gut erinnern. Der lange und kräftezeh-rende Aufstieg vom Dorf hinauf nach Obcina galt im Winter als gefährlich. In zahlreichen Serpentinen zog sich der oft steile Weg durch dunkle Tannenwälder vorbei an im Winter gottverlassenen Almhütten. Wer sich wie Timoftei in den Bergen gut auskannte, wusste natürlich, welchen Gefahren unterwegs aus dem Weg zu gehen waren. Doch Wölfe blieben immer unberechenbar. Beim letzten Zusammentreffen glaubten sie wohl, ausgerechnet ihn an der Nase herumführen zu können. Dabei hätten sie ihn längst schon kennen müssen. Möglicherweise waren sie aber von jenseits der Grenze und aus den Bergen Rumäniens herübergekommen. Immer wieder kamen im Winter Wolfsrudel aus Rumänien in die hiesigen Berge gezogen. Er hatte ihre Anwesenheit damals sofort gespürt und seinen Schritt unmerklich zu beschleunigen versucht. Die Frage war nur, wer sich jetzt besser in diesem Gebiet auskennen würde. Und da schien er im Vorteil zu sein. Das Rudel hatte sich allerdings geschickt an der bergigen Seite oberhalb des Weges verteilt, und ihn von dort aus genau beobachtet. Unter den tiefhängenden Tannenzweigen hatte er im Schnee mehrere Augenpaare böse aufblitzen sehen. Auch sie warteten auf eine ihnen passend erscheinende Gelegenheit und auf den einzig richtigen Moment, um zuschlagen zu können. Timoftei hatte damals einfach nur Glück gehabt. Kurz vor der rettenden Sennerei, die zu diesem Zeitpunkt allerdings schon verlassen gewesen war, musste er noch über eine improvisierte Brücke klettern. Würden sie ihm dort den Weg verstellen und angreifen? Mit flachem Atem war er auf die Brücke zu gekeucht. Nur zehn Meter bevor er die Brücke erreichen, die Wölfe sich aber aller Wahrscheinlichkeit nach auch aus dem Unterholz lösen würden, erschütterte ein starkes Krachen den Wald. Mit einem mehr Angst als Mut vortäuschenden Aufschrei hatte er sich mit letzter Kraft in Richtung der wackligen Brücke geworfen. Aus dem Augenwinkel sah er noch, wie die ebenfalls aufgeschreckten Wölfe im Schnee auseinander stoben und unmittelbar darauf eine altersschwache Tanne unter der Schneelast hinter ihnen zusammenbrach.
Als er dieses Erlebnis später unten im Dorf erzählte, erntete er nur Gelächter. Doch immer wenn er an den Überresten des damals im richtigen Moment in sich zusammengebrochenen Baum vorbei kam, bekreuzigte er sich gleich mehrmals.