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Leseprobe "Die geheimen Tagebücher"
Warum schrieb ich diese Tagebücher? Wollte ich meine Seele erleichtern, damit sie unsterblich wird und nach dem Tode weiterleben kann? Oder startete ich nur einen weiteren tröstlichen Versuch, mit meinen Gedanken, Gefühlen und Empfindungen ins Reine zu kommen?
Vertraute ich diesen Tagebüchern wirklich alles an, als meine Seele lauthals schrie? Fand ich die aufrichtigen Worte, ohne hinlänglich Bekanntes und Abgenutztes niederzuschreiben? Brachte ich genug Mut auf, auch die düsteren Stunden meines Lebens auszuleuchten? Und ließ ich genügend tröstende Gedanken ans Tageslicht, damit die Hoffnung doch nicht sterben würde?
Was ist in diesen Tagebüchern überhaupt als geheim einzustufen? Besaßen sie diesen Status, weil ich sie seit zwanzig Jahren unter Verschluss hielt? Oder vertraute ich ihnen diese absonderlichen Ereignisse nur deshalb an, weil sie ausschließlich mich und meine Frau zu betreffen hatten?
Wie auch immer. Fest steht, dass mich ausgerechnet ein paar ungeliebte und von Deutschland aussortierte Jugendliche zu den Tagebüchern greifen ließen! Ohne diese jungen, verwirrten und bei uns gestrandeten Menschen hätte ich sie wohl nicht geschrieben.
Wieso war eigentlich niemandem etwas Besseres eingefallen, als sie zu uns, ans vermeintliche Ende der Welt zu schicken? Warum glaubt man allgemein, schwererziehbare Jugendliche ausgerechnet im Ausland und dort zum Vorteil Aller zu therapieren?
Wenn ich jetzt darüber nachdenke, kann ich nur zu dem Schluss kommen, dass uns damals einzig und allein das Wunschdenken geblieben war, einfach für sie da zu sein. Eigentlich drehte sich alles nur darum, in unserer kleinen Schicksalsgemeinschaft und gemeinsam mit ihnen die Kraft zu finden, jeden Tag von neuem zu beginnen.
...
Vor der Dämmerung erreichen wir eine kleine Halbinsel, die malerisch am Stausee liegt und einen guten Zeltplatz herzugeben verspricht. Tatsächlich liegen aber überall Unmengen von Plastikflaschen herum, die das letzte Hochwasser auf die Wiese gespült hatte. Trotzdem finden wir einen akzeptablen Platz, helfen noch anderen Campern, die sich mit ihrem Auto zu nah an den See herangewagt hatten und schieben sie auf sicheres Terrain zurück. Wir staunen, dass sich Magnum wohlfühlt. Sie will gleich länger bleiben, doch wir sagen ihr, dass es auch an anderen Orten interessant sein wird. Sie möchte wohl ein einmal gefundenes Fleckchen Erde nur ungern wieder für neue Ungewissheiten aufgeben. Dann suchen wir Feuerholz für ein uriges Lagerfeuer. Magnum beteiligt sich, legt aber Wert darauf, dass alle, insbesondere Petruta, Holz mitsammeln. Richtig so. Das Feuer wird entfacht und wir verspeisen vier der mitgenommenen Pizzas. Dann machen wir noch einige Späße, quasseln und staunen, dass die beiden Mädchen nach Einbruch der Dunkelheit freiwillig ihr Zelt aufsuchen. Sie wäre tierisch müde, doch im Zelt unterhalten sie sich noch bis Mitternacht. Wir halten Nachtwache am Feuer. Am nächsten Morgen, die Hitze ist ohne Schatten in der Sonne stark, packen wir schnell und fahren weiter. Angesichts des vielen Plastikmüll um uns herum mutet es wie Hohn an, dass plötzlich jemand versucht, von uns eine Campinggebühr zu kassieren. Doch wir bleiben standhaft und lehnen dankend ab. Die Mädchen sitzen gerne im Auto, denn sie scheuen den direkten Kontakt mit dem Gras. Am liebsten verstecken sie sich unter ihren Walkmans. Die Reise geht weiter in Richtung Bicazs-Klamm, einem grandiosen Naturschauspiel. Hier türmen sich links und rechts der engen Straße über fünfhundert Meter hohe Gesteinsmassive auf. Magnum verschläft wieder die Anfahrt. Wie immer befinden sich neben solchen Attraktionen unzählige Souvenirstände. Die Mädchen belagern sofort die Ramschläden. Das Naturspektakel interessiert sie nicht im Geringsten. Stachelbänder und Zigaretten müssen von Magnum gekauft werden. Um ein spezielles Stachelband bettelt sie geradezu. Und schon gehts weiter zur nächsten Attraktion, dem Lacul Rosu (Roter See). Petruta kann sich noch an eine Geografielektion erinnern, wonach dieser See der einzige - oder war es der größte? - See vulkanischen Ursprungs Rumäniens sei. Ich bestehe auf eine Bootsfahrt, denn der See hat, am Tag vielleicht nicht gar so beeindruckend, etwas Gespenstiges an sich. Aus seiner Tiefe wachsen unzählige Baumstümpfe, die kurz über der Oberfläche wie Pfähle angespitzt dem Ruderer den Weg versperren. Die Mädchen haben Angst, dass unser Boot aufgespießt wird. Petruta, die nicht schwimmen kann, wird besonders ängstlich, aber auch Magnum ist sich nicht mehr sicher, ob sie noch schwimmen kann. Auch dieser Versuch, ein kleines Abenteuer zu schaffen, fruchtet etwas. Aber trotzdem, eine Situation genießen und sich ihr voll und ganz hinzugeben, ist in meinen Augen etwas anderes. Denn immer dort, wo wir uns gerade befinden, ist es uninteressant. Bloß schnell weiter, zurück ins Auto, Musik hören, Chips knabbern und literweise Coca-Cola trinken. Also gut, fahren wir weiter auf der Suche nach einem Zeltplatz für die Nacht.
Schon werden Stimmen laut, für die zweite Nacht ein festes Haus zu mieten. Aber wir bleiben standhaft, zumal das Wetter endlich stabil und schön ist. Wir erreichen Baile Tusnad, das überregional bekannte wie beliebte Tusnadbad. Auf der Suche nach einem Campingplatz erfahren wir, dass es in den nächsten drei Tagen keine Möglichkeit gibt, hier zu campieren. Der Grund ist einfach wie überzeugend: Es wird ein Rockkonzert veranstaltet. Magnum ist begeistert. Ich spare mir die Bemerkung, dass es sich also gelohnt hat, unterwegs zu sein und sich überraschen zu lassen. Angeblich würde sie ja liebend gerne auf Überraschungen verzichten können. Bei ähnlichen Diskussionen wird schnell klar, dass Magnum ihren Standpunkt hat und sich davon keinen Millimeter fortbewegen möchte. Was sie zu wissen glaubt, bleibt auch angesichts besserer Argumente oder gar unwiderlegbarer Tatsachen aufrechterhalten. Eine Diskussion mit ihr darüber ist sinnlos. Wieder heißt es, ihr mit unendlicher Geduld und unzähligen Versuchen ein anderes Leben vorzuleben.
Also steht ein Rockkonzert an, und somit die an Sicherheit grenzende Möglichkeit, Gleichgesinnte - womöglich mit Stachelbändern - zu treffen. Doch vorerst muss ja noch der Zeltplatz gefunden werden, denn der dafür vorgesehene Platz ist bereits von der Bühne und den Würstchenbuden belegt. Doch es dauert nicht lange, und wir finden in einem Garten ein angenehmes Plätzchen. Wir bauen unsere Zelte auf, ich zeige den Mädchen die Toiletten und Waschanlagen und dann gehen wir etwas Essen. Langsam füllt sich der Platz, doch Konzertbeginn ist 21 Uhr. So schlägt ausgerechnet Magnum vor, dass wir uns vor dem Konzert nochmals ausruhen und hinlegen. Gesagt, getan. Nur Magnum muss plötzlich noch mal alleine zur Bühne spazieren. Doch sie bleibt nur eine halbe Stunde weg und berichtet von tollen Typen, die auch Stachelbänder tragen würden. Einer von denen hätte sie ständig angesprochen. Wann wir denn endlich zum Konzert gehen würden? Dann ist es so weit. Die Vorband ist schon mal ganz gut. Magnum würde sich am liebsten gleich zwei Zigaretten gleichzeitig in den Mund schieben, schaut sich ständig um, bleibt aber in unserer Nähe. Ich stelle mich an den Bühnenrand und filme ein wenig. Immer wieder kundschaftet Magnum Typen aus. Ständig fragt sie mich, ob der Typ schwul sei und behauptet von unscheinbaren Jungs, sie wären es mit Bestimmtheit. Es ist wohl eines ihrer Lieblingsthemen. Sein, oder nicht sein, das ist für Magnum die Frage. Dabei wird nicht ganz klar, ob Schwulsein nun verabscheuungswürdig ist oder eher nicht. Sie tendiert wohl zur Verurteilung. Wir stehen vor der Bühne, als die ungarische Hardrockband Republic unter großem Gejohle auftritt. Überhaupt scheinen hier alle Fans dieser Band zu sein, und das sind nicht wenige. Ich schätze, dass allmählich um die dreitausend Fans in Fahrt kommen. Zum Glück ist es eine verhältnismäßig harmlose Musikrichtung, und auch die Fans gehören keiner Bewegung oder gar extremen Richtung an. Magnum ist mit ihren Stachelarmbändern eher eine uninteressante Ausnahme. Dann wird sie sauer, dass sie nichts versteht und die Fans die Texte der Band lauthals mitsingen können. Während Florentina und Petruta versuchen, uns mit Dönern zu erreichen, kommt Magnum auf Touren. Im Gedränge - oder waren es ihre kreisenden Armbewegungen? - verliert sie plötzlich ihr Stachelarmband. Augenblicklich ist die Katastrophe da, denn nun sucht sie mitten im Publikum mit einem Feuerzeug ihr Stachelband. Die tolle Band ist vergessen, sie wird ungehalten und versucht verzweifelt, das geliebte Teil zu finden. Vergeblich. Am Ende muss ich ihren Rucksack tragen, an dem sie ständig herumfummelt. Entweder auf der Suche nach ihren Kippen oder dem Feuerzeug.
Am Nachmittag gab es noch eine kleine Auseinandersetzung mit ihr, da sie mich ständig aufforderte, ihr Feuerzeug oder ihre Zigarettenschachtel zu halten. Ich habe das ein paar Mal mitgemacht, aber irgendwann reichte es mir. Sie hätte ja keine Hosentaschen. Dann soll sie doch andere Hosen tragen, sagte ich, jedenfalls werde ich nicht mehr ihre Sachen bereithalten. So musste sie ihren Rucksack selber tragen, der nun beim Springen im Rhythmus der Musik störte. Ich fand nochmals Erbarmen und übernahm ihren Rucksack, an dem sie wieder ständig herumfummelte.
Ich bemerkte, wie sie einen etwa 35-jährigen Mann anstarrte. Und das extrem ungeniert und ausdauernd. Mir kam es vor, als würde sie ihn hypnotisieren wollen. Der Erfolg blieb nicht aus, das heißt, der Mann konnte einfach nicht anders, als auf sie zuzugehen. Das war jetzt der Augenblick, wo ich in den Ring steigen musste. Ich signalisierte dem Kerl, so gut ich das in dem Lärm überhaupt konnte, dass ich ihr Macker sei. In einer Sprache, die er auch zu verstehen vorgab. Aber es wirkte nur kurz, denn Magnum signalisierte mit ihrer Anmache genau das Gegenteil. Immer wieder versuchte er, ihr irgendetwas auf Ungarisch zu erklären. Ein sinnloses Unterfangen, allein schon aus Gründen der extremen Lautstärke. Aber es ging ihm ja nicht darum, ihr irgendetwas Unwichtiges ins Ohr zu schreien, sondern sie anzutatschen. Ich sagte Magnum, sie solle die Finger von ihm lassen, worauf sie unschuldig erwiderte, sie wolle nichts von ihm, außer Bier. Als dann auch noch ihr BH-Träger riss, wurde mir die Sache zu schrill. Genau in diesem Moment erreichten uns Florentina und Petruta mit den tropfenden Dönern. Bei diesem Lärm ließ sich nicht viel erklären, aber Florentina begriff sofort, worum es ging. Also stellten wir uns beide demonstrativ zwischen sie und dem entflammten Ungarn. Magnum schaute ertappt und gleichzeitig sauer drein, während der Ungar immer wieder seine Unschuld zu beteuern versuchte. Florentina erklärte ihm unmissverständlich, dass das Mädchen 14 Jahre alt sei und nichts für ihn wäre. Kurz darauf trollten sich die Männer, doch nach etwa 20 Minuten kamen sie zurück. Zuerst glaubte ich, die Sache wäre erledigt, doch Magnum überraschte uns ein weiteres Mal, als sie plötzlich einen Bierbecher in der Hand hielt. Der war ihr natürlich vom Ungarn spendiert worden. Sofort nahm ich ihr den Pappbecher aus der Hand und gab ihn dem Ungarn zurück, der nun noch unschuldiger tat und ernsthaft anbot, dass Florentina ihn trinken könne. Glücklicherweise neigte sich das Konzert endlich dem Ende zu, und wir konnten uns und Magnum aus der Reichweite dieses Typen schieben. Auf dem Heimweg versuchte sie noch vorzuschlagen, andere Würstchenbuden aufzusuchen, aber der große Dampf war raus und wir brachten sie ins Zelt, wo sie glücklicherweise auch blieb.
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