Inhalt

Nicht wenige der seit Jahrhunderten zwischen den „verfluchten Bergen“ der Maramuresch spielende Märchen und Sagen ließen sich auch heutzutage in diesen Gebirgstälern vorstellen. Selbst wenn selten Weltbewegendes oder diesen Mikrokosmos aus seinen Angeln Hebendes darunter gewesen war, sorgen neuerdings märchenhafte Reiseberichte aus ebendiesen versteckten Bergen für Irritationen. Plötzlich beginnt es, interessant zu werden, in diesen letzten Krähenwinkel unseres alten Kontinents zu reisen.

Noch vor einer Generation lagen die Geschichten buchstäblich auf den holprigen Straßen, unbeachtet und still im Staub vor sich hinträumend. Von den Bewohnern wurden sie als bedeutungslos und keiner Erwähnung wert erachtet. Aber welche Geschichten ereigneten sich, die – damals und auch heute nicht ernst genommen – kaum noch zu glauben sind? Wohin verschwanden die Geschichtenerzähler mit ihren die alte Zeit immer wieder heraufbeschwörenden, märchenhaften Bildern? Und wer kann diese Bilder mit ihren dazugehörigen Geschichten vor dem Vergessen bewahren und sie mit Namen nennen?

In diesem Fotogeschichtenbuch soll von einer Spurensuche die Rede sein. Mal neugierig und verspielt im dunklen Blätterwald herumstöbernd, dann wieder akribisch genau und sich im hintersten Bildwinkel an einem blühenden Zweig erfreuend. Zuweilen wird es sogar stürmisch, und nicht selten gilt es, sich im Mittelpunkt des Bildes zu behaupten. Aber trotz allen Kämpfen um Leben und Tod, schicksalhaft verbunden mit Elend und Leid, soll es auch humorvoll bleiben. Vielleicht, weil nach all den märchenhaften Jahrhunderten nichts mehr zu verlieren, aber für den aufmerksamen Bildbetrachter und Geschichtenleser einiges zu gewinnen ist.

Leseproben

Sich selbst überlassen und wie über einen fremden Planeten dahinziehend, kreuzt diese Familie die Festwiese eines Volksfestes. Als würden sie nicht dazugehören und sich in einer luftleeren Raum- und Zeitkapsel befinden. Nur dem Fotografen mit seiner speziellen, Roma sichtbar machenden Kamera scheinen sie sich zu offenbaren. Kein mitleidiger Blick folgt ihrem klapprigen Rollstuhl, den sie auf dieser Bergwiese umsonst vor sich herschieben. Während der kleine Bruder noch das Tragen seiner jüngeren Schwester übt und wir uns fragen, warum sich Kinder gegenseitig schleppen müssen, erkennen wir als alarmierendes Schlusslicht der Gruppe einen älteren Mann, der einen noch älteren auf seinem Rücken trägt. Oder ist es so, dass der ältere sogar den jüngeren schleppt? Weil aber der Getragene als einziger einen Hut besitzt, kann nur er ein achtenswertes Familienoberhaupt und so etwas wie der Großvater der Enkelkinder sein. Es ist klar: Hier schleppt sich eine eingeschworene Schicksalsgemeinschaft wie eine Gruppe Außerirdische, die eigentlich Verstoßene sind, über unseren reichen, Erde genannten Planeten. Wir wissen natürlich alle, dass es sich um Roma handelt. Und wir wissen auch, dass sie sich hier nicht zum ersten Mal ihren holprigen Weg durchs Leben erkämpfen müssen. Roma sind, waren und werden wohl immer die Ärmsten der Armen Rumäniens sein und bis in alle Ewigkeit ungeliebt bleiben. Unwillkommen sind sie auch noch, denn sie gelten als unstillbare Geschöpfe, die undankbar und ungläubig sind. Überhaupt heftet man ihnen gerne alles Unangenehme an, am liebsten die eigenen Schwächen und Fehler. Mit dieser Gruppe und ausgerechnet auf einem heiligen Volksfest kreuzt etwas Irritierendes den Weg der festlich Kostümierten, etwas, an das niemand an diesem Tag erinnert werden möchte. Es ist das hartnäckig in uns Menschen festsitzende Unvermögen, Andersartige zu respektieren, ihnen tolerant entgegenzutreten und nicht immer auf der eigenen Lebensweise als der einzig möglichen oder gar besten zu beharren. Wäre es nicht an der Zeit, sie als Erdenbürger zu akzeptieren, und zwar so, wie sie sind und am liebsten sein wollen? In diesem Rollstuhl könnten auch wir eines Tages sitzen, hilflos und bettelarm geworden und ohne Familienangehörige, die uns schieben oder, wie es hier so bewundernswert zu erleben ist, uns tragen, wenn es nicht mehr anders geht. Schauen wir also genau hin und lernen von ihnen, wie wir es einmal selbst anstellen können, vorwärts zu kommen, obwohl alle wegschauen oder uns sogar Steine hinterherwerfen.

Der da so liegt, als würde er stehen, ist kein auf die Seite gelegtes Denkmal, für das man gerade einen Sockel gießt. Er soll nicht im Dorfzentrum aufgestellt werden, mit warnend zum Himmel erhobenem Zeigefinger. Im Gegenteil: Entzündete jemand unter ihm ein kleines Feuerchen, spränge er augenblicklich hoch, um seinen letzten Zigarettenstummel daran zu entzünden. Wie aufgetaut und aus einer Totenstarre erwacht, hätte er uns eine Menge zu berichten. Und das, obwohl ihn dieser Tag nicht weit vorangebracht zu haben scheint. Oder gehört er gar zu jener seltenen Spezies, die seit Jahrzehnten in Fachzeitschriften beschrieben und von Ethnologen zur Fahndung ausgeschrieben wurde? Führt er in seinem vorsorglich unter der Bank abgelegten Beutel Urkunden mit, die ihm, einem königlichen Freibrief gleich, freies Geleit und viele Privilegien garantieren? Ist er vielleicht der letzte aus der Leibeigenschaft entlassene Rumäne, oder ließ man ihn gar als vogelfrei ausschreiben? Ist er ein Simulant, der uns mit seiner perfekten Körperhaltung Symptome einer unheilbaren Krankheit vortäuscht? Unsere Aufmerksamkeit hat er bereits geweckt. Oder versteckt sich hinter ihm wieder nur einer dieser Konzeptkünstler, die mit ihren verschlüsselten und als Kunst getarnten Botschaften für Rätselraten sorgen? Seine auf bloße Wirkung abgestimmte Kleidung lässt diesen Schluss durchaus zu. Doch diesem geheimnisvoll umgekippten Mann kommt man so nicht auf die Schliche. Hier darf nicht überinterpretiert werden, denn seine äußere Erscheinung verstellt den Blick auf das Wesentliche. Man stelle ihn sich, wie schon eingangs erwähnt, noch einmal stehend vor. Seinen rechten Arm, der ihm nie ganz senkrecht stand, hält er wie zum Gruß erhoben. Aber wen sollte er grüßen, wenn ihn hier niemand kennt und noch weniger ihm helfen möchte. Also zeigt er als eine Art Durchreisender in die Richtung, in die er ursprünglich wollte, aber zu gehen abgehalten wurde. Dieser Mann trägt einen Bart, ein klares Indiz für einen sich seit langer Zeit unterwegs Befindlichen. Damit wäre das Rätsel gelöst, und der Fall kann endlich zu den Akten gelegt werden: Wir haben es hier mit dem bedauernswerten Tod eines rumänischen Handlungsreisenden zu tun.

Nachdem die musikalische Seite Ivans, dem bekannten Fiedler auf dem Dach der Welt zur Sprache gekommen ist, könnte diese Fotografie nun seine tänzerischen Fähigkeiten belegen. Doch was hier wie ein im Flachland weitestgehend unbekannter Bergtanz aussieht, hat eine andere Ursache. Selbst wenn auch mir als anfangs irritiert diese Szene beobachtendem Fotografen ihre eigenwilligen Bewegungen wie ein Paartanz vorgekommen waren, erkannte ich am Ort des Geschehens recht bald, dass sich Ivan und seine spindeldürre Frau Motria eines hartnäckigeren Problems zu entledigen versuchten. Sie waren gerade dabei, ihre mit klebrigem Lehm verschmierten Gummistiefel, ohne unnötig viel Wasser zu verbrauchen, am Gras abzustreifen. Als unfreiwilliger Zuschauer dieser skurrilen Darbietung musste ich mich schon sehr zusammenreißen, denn die beiden vollführten tatsächlich einen wie aus der Raum und Zeit gefallenen Tanz. Dabei zeigte sich, dass Hacken und Spitzen der Stiefel sich trotz geschickter Drehungen und Wendungen des Körpers wie des Schuhwerks nur äußerst umständlich vom Schlamm befreien ließen. Wie gut zu erkennen ist, hatte sich Ivan während seines unorthodoxen Reinigungsrituals bereits viele Meter von seiner Tanzpartnerin entfernt. Die gute Motria wollte oder konnte sich nicht mehr so exzessiv wie ihr jüngerer Ehemann bewegen, bei dem ich bereits eine gewisse Ekstase zu erkennen glaubte. Fest steht, dass schon nach weniger als zwei Minuten beide Stiefelpaare wieder zu glänzen begannen und sich nachweislich eine größere Menge Wasser einsparen ließ. Aber wie konnten ihre Schuhe auf dieser grünen Wiese überhaupt so schmutzig werden? Ganz einfach. Am vorderen linken Bildrand ist gerade noch eine kleine Hütte zu erkennen. Diese mich immer an Hundehütten erinnernden Verhaue bergen in ihrem Inneren und in ihren Tiefen bis zu zwei Metern frostsicher eingelagerte Kartoffelvorräte. Die dort hinter einem abschließbaren Türchen nicht nur vor Mäusen und Ratten sicher eingelagerten Kartoffeln werden nach der Herbsternte in diesen speziellen Erdlöchern verborgen. Damit die zum Überleben wichtige Lagerung überhaupt erst möglich wird, krabbeln Kartoffelliebhaber wie Ivan und Motria durch ein winziges Türchen und steigen dorthin hinab, wo in einer lehmigen Grube eingebunkerte Knollenvorräte bis auf ihre Bergung nach dem Winterhalbjahr zu warten gewohnt sind.

Nichts wurde mit dem Jungen abgesprochen oder zurechtgerückt, alles entstand wie immer und selbstverständlich von selbst, und zwar ganz einfach, weil das Leben in der Maramuresch auch ohne unser Zutun funktioniert. Doch seitdem sich fremde Menschen – mich mit eingeschlossen – für dieses Leben zu interessieren beginnen, fängt der jahrhundertealte Lebensfluss der Maramuresch zu mäandern an. Viele Bergbewohner sind irritiert und kratzen sich verwundert ihre alten Schädel, weil sie nicht verstehen können, was an ihnen so anders oder angeblich besonders sein soll, dass es sich lohnen würde, diesen weiten Weg bis zu ihnen in Kauf zu nehmen. Fast möchte man ihnen zustimmen, weil zu befürchten ist, dass sie damit beginnen, unseren Vorstellungen von sich gerecht zu werden, und am Ende vielleicht Dinge tun oder sagen, die ihnen sonst nie in den Kopf gekommen wären. Möglich, dass ich nun schon ein Buch lang von meinen Albträumen berichte, von der zu einem Berggasthof führenden Autobahnabfahrt „Obcina“. Werden sich meine Ängste als Hirngespinste eines unverbesserlichen, unbelehrbaren und starrsinnigen Sammlers alter Weltenbilder herausstellen? Vielleicht hänge auch ich längst wie dieser in sich selbst verdrehte Junge in meiner eigenen vernagelten Holzkiste, über der sich eines hoffentlich noch fernen Tages der Deckel schließen wird. Verschwinde ich dann, von meinen eigenen Wunschvorstellungen hin- und hergeworfen in einem eingeklemmten Schubfach, vergessen zwischen zerbrochenen Bleistiften und vergilbten Fotografien. Kann ich einen Ausweg finden, wenn die letzten Höfe verrottet und alten Häuser verbrannt und vergessen sein werden? Einer meiner Filme heißt „Verlacht, vergraben und vergessen“ und sollte eigentlich nicht von mir handeln. Doch worin soll ich mich ausstrecken und über welchem Bettkasten meine für die kleine Welt der Berge zu lang geratenen Beine baumeln lassen?
Ich weiß es nicht und will es, ehrlich gesagt, auch nicht wissen.
Für mich vereint das Foto dieses verschmitzt lächelnden Jungen alles, was mir auszudrücken wichtig ist. Aus einem Bett, das mehr Futterkrippe als Schlafplatz ist, in einer Kleidung, die mehr Wärme als Geborgenheit spendet, erwischt in einer Körperhaltung, die wohl eine Lebenseinstellung andeuten soll, strahlt dem Betrachter ein kindlich offenes Augenpaar entgegen, und zwar Augen, die Erwachsenenaugen Lügen strafen. Und darauf, auf nichts anderes kommt es mir an!

Aus welch erschrockener Kinderseele dringt dieser Blick zu uns an die Oberfläche? Welche Gezeiten wirken auf diese Regenbogenhaut, um Pupillen von dieser Tiefe zu formen? Was würden sie uns zeigen, wenn wir in sie hinabtauchen könnten.
Es ist wie eine Herzspülung, in die mich Ancas Blick auf dieser Fotografie wirft. Und ich frage mich, ob ihre Tränen bereits getrocknet sind oder schon im nächsten Augenblick wieder zu fließen beginnen. Die sich in ihrem Gesicht ausbreitende Abwesenheit eines kleinsten Lächelns erschreckt mich bis ins Mark. Vergeblich sucht man das Anzeichen eines winzigen Hoffnungsschimmers. Selbst ihr kindlicher Mund bleibt hoffnungslos verschlossen. Dabei kann sie nach Belieben herzhaft lachen, ausgiebig spielen und wild herumtoben. Ich habe mit angesehen, wie sie konzentriert lernen, sehr aufmerksam zuhören und in ihrer kleinen Welt kindlich erfrischend spielen konnte. Obwohl sie viel gesehen hat und sicher noch viel mehr mit anschauen musste, wird sie unmöglich die richtigen Schlüsse daraus gezogen haben. Wohl aus diesem Grund blicken ihre Augen wie zwei Fragezeichen und hängt der Mund wie ein nach einem vorläufigen Satzende suchendes Komma schief unten dran. Wer wie Anca, sprachlos geworden, Hilfe sucht, die sich nicht mehr hinter Formulierungen verstecken lässt, dem können nur solche traurigen Augen ins Gesicht geschrieben bleiben. Wir müssen lernen, in ihnen zu lesen.
Anca ist inzwischen groß und schlank geworden. In den einst kindlichen Ausdruck ihrer Augen ist ein vorwurfsvoller Blick eingezogen. Wie ein fernes Grollen verbreiten sich Trotz und Gegenwehr um ihren Mund, verdichten sich düstere Wolken am Horizont ihrer Pupillen. Das Aufblitzen in ihren Augen bleibt noch ein fernes Wetterleuchten mit schwach aufzuckenden Blitzen, die keine Richtung wissen. Noch konspirieren ihre Gedanken untereinander und tauschen geheime Zeichen aus. Wann werden sie ausbrechen und gezielt losschlagen? Die Gefahr liegt nicht in der Dimension, sondern in der Richtung ihres Ausbruchs. Das Versagen ihrer Mutter läuft Gefahr, sich in der Tochter zu wiederholen. Wird sie sich an ihr rächen und in blinder Ohnmacht ebenso scheitern, oder schafft sie es, erhobenen Hauptes aus dem teuflischen Kreislauf von Armut und Unterdrückung auszubrechen? Dieser tieftraurige Blick ist ein Augenblick, der sich noch vorübergehend wegwischen lässt. Aber vergessen dürfen wir ihn nicht.

Wie Glockenblumen schwingen Ivan und Motria an ihren eigenen, gut mit der Bergwiese verwurzelten Stengeln. Die beiden inmitten des Rampenlichts der Bergblumen stehen zu sehen, bedeutet, sie von innen strahlen und klingen zu hören. Die zwischen den Gräsern hockenden Kerfe begleiten Ivans Violinengezwitscher mit ihrer eigenen, artenreichen Musik. In dieser Höhenlage klingt sein Violinenspiel beinah überirdisch, und das ohne zwingend als organisiertes Schallereignis zelebriert zu werden. Die unerklärlichen Beziehungen der Töne fließen wie von selbst in ein harmonisches Musikerlebnis, wobei die hörbaren Bereiche dank einer besonderen Intensität physikalisch nicht mehr nachweisbar sind. Ivans Vortrag grenzt zuweilen an eine kultische Zeremonie, die gut und gerne auf Trommeln, Gesang und Tanz verzichten kann. Man glaubt, in seinem Resonanzkörper ein von den Sumerern Mesopotamiens erfundenes Chordophon, eine Art Ur-Harfe, herauszuhören.
Die Frage, was Musik ausmacht, ist so alt wie die Musik selbst. Sie wird immer wieder rational und emotional zu erklären versucht, gerne als reine Theorie oder Praxis betrachtet und als gefühlsbetonte Kunst oder zahlenbezogene Wissenschaft diskutiert. Ivan ist von solchen und anderen zum Streiten aufgelegten Überlegungen noch nichts zu Ohren gekommen. Bittet man ihn, etwas zu spielen, wird man plötzlich zum Beobachter eines unerklärlichen Phänomens: urtümliche Musik genannt. Am Anfang war das Wort, erklungen in einem göttlichen Schöpfungsprozess. Ivan schöpft aus sich selbst, aus seinem mit musikalischen Erinnerungen aufgefüllten Ton-Krug. Immer wieder fallen ihm aus heiterem Himmel alte Melodien ein, fliegen ihm Lieder aus seiner Jugendzeit zu und vermischen sich dann mit den Interferenzen der vom Wind durchschüttelten Gräser und dem Rauschen der Fichtenkronen im über sie hinwegstreichenden Fön. Aus Ivan schallt eine alte und in den Tälern längst verstummte Zeit zu uns herüber. Dann lauschen wir seinem ungefiltert vorgetragenen Laienspiel, das im Zusammenklang mit dem Sound der Berge und seinem sich dort zu Hause fühlenden Naturell unverwechselbar wird. Und weil Musik Menschen tief berührt, wenn sie direkt aus der Seele spricht, glauben wir, den Berg reicher zu verlassen, als wir ihn bestiegen haben.

Das Buch "Maramuresch" ist im Schiller Verlag Bonn - Hermannstadt
erschienen und kostet 20 Euro (zuzüglich Versand).
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weintal84@gmail.com