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Leseprobe
"101 Foto/Geschichten aus den Waldkarpaten"
Band II |
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Das Leben dreht sich oft so schnell wie diese Zuckerwatte, und es könnte genauso süß sein. Staunend steht das Mädchen vor der unscharfen Illusion aus Hunderten Zuckerfäden und fragt sich, ob sie - wie im Zirkus üblich - einen Tagtraum erlebt oder doch nur wieder ausgetrickst wird. Die Zuckerwatte ist zum Greifen nah und verströmt ihren süßen Duft, bleibt aber ungenau wie eine sich auftürmende Sommerwolke. Bekommt das Mädchen hier für ein Taschengeld etwas Wunderbares in die Hand gedrückt, oder wird die Zuckerwatte gleich wie eine Seifenblase platzen oder sich in einer Wolke auflösen? Wird am Ende alles vor dem Zirkuszelt wie nasser Schnee in der Frühlingssonne schmelzen und das Mädchen mit einem klebrigen Holzstäbchen zurücklassen? Wird sie erkennen, dass auch ihr Leben kein Zu-ckerschlecken ist?
Obwohl ihr Blick so tut, als hätte sie diese Wolke noch nie gesehen, kann es doch unmöglich ihre erste Zuckerwatte sein. Fasziniert uns nicht alle immer wieder der Moment ihrer Entstehung? Wie können in unserer überzuckerten Zeit wenige Zuckerkrümel noch immer ein verlockendes Versprechen darstellen, um dass wir Kinder fast beneiden, weil wir uns mit Zuckerwatte nicht mehr sehen lassen wollen?
Diese Zuckerwolke erinnert mich an einen weißen Schtreimel, der, ähnlich wie sein brauner Bruder, fast ausschließlich an Feiertagen getragen wird. Allerdings hält das Mädchen ihn in der Hand und nur, wenn er beim Naschen kleben bleibt, landet er in den Haaren. Wie einst bei den chassidischen Juden Galiziens, besonders denen der Bukowina und Maramuresch, verleiht er dem Träger ein Gefühl von Identität. Dieses Mädchen wird mit ihrer Zuckerwatte in der Menge auffallen und ebenso vernaschten Jungen den Kopf verdrehen. Trotzdem haftet der süßen Verheißung auch etwas Unschuldiges an. Wie der Apfel der Erkenntnis aus dem Paradies strahlt er anfangs Unberührtheit und Reinheit aus, während symbolisch bereits Versuchung, Sünde und der Verlust von Unschuld mitschwingt. Das Glitzern der Zuckerkristalle versetzt das Mädchen in einen nicht zu übersehenden hypnotischen Zustand, der Raum und Zeit vor ihren staunenden Augen verschmelzen lässt.
Die hier kurz erstrahlende Poesie in einem flüchtig vorüberziehenden Augenblick soll das Buch eröffnen und zum Wei-terblättern anregen. In dieser kurzen Szene steckt einiges von dem, was uns am Augenblick so fasziniert, denn sie betont die Vergänglichkeit und Einzigartigkeit eines bestimmten Zeitpunkts. Lenken wir unsere Aufmerksamkeit also mehr auf den Wert des gegenwärtigen Moments und die Bedeutung des bewussten Erlebens
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Der Regenschirm ruht griffbereit in ihrer Hand, doch ihr Blick schweift bereits in eine andere Richtung, fern von dem Jungen, der sie küsst. Wer das Foto von Henry Cartier-Bresson kennt, das er in den siebziger Jahren auf einem Frühlingsfest in Hoteni, Maramuresch, aufnahm, wird unweigerlich spüren, wie sich die Zeiten geändert haben. Damals waren sich die Protagonisten weder der Kamera bewusst noch ahnten sie, dass sie einem Meister seines Fachs begegnet waren.
Heute hingegen scheint das unsichtbare Beobachten beinahe unmöglich geworden. Obwohl auch damals eine Kamera kein unauffälliges Werkzeug war, gelang es mir 2016 nur mit Mühe, diesen Moment halbwegs unbemerkt einzufangen. Inmitten des Trubels konnte ich kurz in der Menge untertauchen, gerade lange genug, und diese intime Szene einzufangen - ein Augenblick, indem die impulsiven Regungen der Pubertät, vor allem bei dem Jungen, meinen Plan begünstigten.
Dieses Bild lädt dazu ein, über die heranwachsende Generation in Maramuresch nachzudenken - eine Generation, die wie ihre Vorfahren lernen muss, den Stürmen des Lebens standzuhalten. Doch gelingt es ihnen, die Herausforderungen der Gegenwart zu meistern, die oft schwerer wiegen als je zuvor? Ich will nicht bei einer abgegriffenen Metapher verweilen, sondern mit dem Bild selbst antworten.
Es scheint sicher: Liebe wird immer ein Anker bleiben. Diese Paare - und viele andere - werden, wie wir alle, die Liebe zu schätzen wissen, egal, wann und wo sie sie finden. Sie werden ihr Leben mit einer bewundernswerten Leichtigkeit und Selbstverständlichkeit gestalten. Doch das Fundament, auf dem sie stehen, ist das Vermächtnis ihrer Eltern, die oft unter großen Entbehrungen alles dafür getan haben, ihnen eine bessere Zukunft zu ermöglichen. Viele Eltern aus Maramuresch arbeiten im Ausland, kehren mit gefüllten Taschen, aber leerem Herzen zurück. Sie opfern sich für ihre Kinder auf, die jedoch nur das Geld sehen - nicht den Preis, der dafür gezahlt wurde.
Jugendliche wie die auf diesem Foto nehmen das Geld mit offenen Händen, doch ihre Blicke verraten eine stille Anklage: das Gefühl, allein gelassen worden zu sein. Sie nehmen, ohne zu verstehen, dass Geld niemals die Liebe ersetzen kann, die sie vermissen. Und so geben sie es oft unüberlegt aus - nicht aus Gier, sondern aus einer Leere, die sie selbst nicht begreifen.
Vielleicht liegt hier eines der zentralen Dilemmata dieser Ge-neration: Sie wachsen mit der Selbstverständlichkeit auf, Geld auszugeben, ohne den wahren Wert zu kennen. Sie ahnen nur, wie viele Tränen und wie viel Sehnsucht in den Scheinen stecken, die ihnen so leichtfertig in die Hände gelegt werden. Dieses Missverständnis - zwischen gebenden Eltern und for-dernden Kindern - prägt eine stille Tragödie, die tief in die in die Familien der Maramuresch einschneidet.
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Auch wenn das Foto von einer zarten Unschärfe überzogen scheint, ähnlich einem sanften Morgennebel, durchbohren diese Augen das Herz des Betrachters wie scharfe Rosendornen. Es wird Menschen geben, die diesem intensiven Blick nicht standhalten können, so durchdringend und kraftvoll blitzt er auf, als käme er direkt aus einer fernen Galaxien zu uns. Doch dies ist kein Hilferuf verzweifelter Wesen aus dem All, der seit Jahrmillionen durch das Universum reist. Nein, dieser Blick gehört einer Frau, deren Stärke aus tiefer Armut und Verzicht geboren wurde. Mit ihrem Ausdruck sendet sie ein berührendes, tief menschliches Lebenszeichen in die Welt.
In ihrem Gesicht spiegeln sich der geballte Schmerz und das Elend dieser Erde wider. Frauen wie sie gibt es überall: auf allen Kontinenten, in Städten und Dörfern, in den Bergen und Tälern, in Wäldern und an jedem Ort, an dem menschliches Leben pulsiert. Im Frieden wie im Krieg, neben Wohlstand und inmitten bitterster Armut. Wir begegnen ihnen überall - und doch bleiben sie oft unsichtbar und ungreifbar.
Wenn ich ein einziges Bild von unserer Welt auf eine Reise ins Universum schicken dürfte, um die Menschheit in ihrer Essenz darzustellen, würde ich dieses Foto wählen: Maria aus Bocicoel in der Maramuresch. Ihr Blick sagt mehr als Worte je könnten. Wer Augen lesen kann - und ich glaube fest daran, dass jede intelligente Existenz irgendeine Form der visuellen Wahrnehmung besitzt - wird diesen Ausdruck verstehen. Er wird ähnliche Fragen stellen und nach den gleichen Antworten suchen wie wir. Falls jedoch keine Regung ausgelöst wird, zeugt das von einer Existenz ohne Leben und Seele.
Wenn unser Herzschlag unverändert bleibt, während wir in diese Augen blicken, sollten wir tief in uns hineinhorchen und fragen, ob wir noch fühlen, was wirklich zählt. All die Jahre, die wir leben oder gelebt haben, verblassen im Angesicht dessen, was uns wirklich menschlich macht. Es spielt keine Rolle, wie alt wir sind oder welche Hürden das Leben uns in den Weg stellt. Ob der Nachbar uns provoziert, Schulden uns belasten oder das dritte Auto unerschwinglich bleibt - all das sind nur Schatten im Vergleich zu dem, was wirklich wertvoll ist.
Wichtig ist, mit Würde zu leben und in Würde zu altern. Diese Würde zeigt sich nicht im Besitz oder im Erfolg, sondern in den Momenten, in denen wir Mitgefühl und Respekt bewahren. In den Augen dieser Frau spiegelt sich nicht nur Schmerz, sondern auch eine stille, unerschütterliche Kraft, die uns daran erinnert, was wirklich zählt: Menschlichkeit, Empathie und die Fähigkeit, uns im Anderen wiederzufinden. Verlieren wir das aus den Augen, verlieren wir nicht nur den Kontakt zu anderen, sondern auch zu uns selbst.
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