Der ruthenische Bauer hat mit dem Tiefseefisch mehr gemeinsam als ihm wahrscheinlich lieb ist
Was man glaubt, das in Björn Reinhardts Filmopus "Obcina" unter der Oberfläche lauert


© Ron Philippe A.D. MMVIII

Eigentlich will der ruthenische Bauer gar kein Tiefseefisch sein. Aber müssen wir ihn nicht in die Nähe dieses speziellen Meeresbewohners rücken, wenn er, nachdem alles mögliche an Heu eingebracht und das Sauerkraut die erste Gärung hinter sich hat und die Mägen von Mensch und Tier wohlig gefüllt sind, sich für den Rest des Winters auf sein Bett legt und sich nur im allernötigsten Fall bewegt, um so Energie zu sparen, exakt gleich wie der Tiefseefisch, von dem er angeblich nichts weiss? Wäre es für uns, die wir stets unter die Oberfläche blicken wollen, wohl nicht einfacher, den Bauer genauer zu examinieren? Vielleicht unternimmt er in dieser freien Zeit ausgedehnte Wanderungen über den Meeresboden und wundert sich über einiges, das dort ziemlich ungerade zu sein scheint, wie der krasse Mangel an Essbarem. Die Bewohner dort geben sich jedenfalls hinreichend zugerüstet, denn deren Mägen sind extrem dehnbar und können Beute vom eigenen Volumen vereinnahmen!

In dieser Examination müssten wir uns als erstes fragen, warum er denn so etwas tun sollte, der Cut Stefan auf seinem Berg Obcina in der Maramures mitten im Winter im Sauerkraut: Vielleicht war es Hafia, die ihm den ganzen Sommer mit einer neuen Korallenkette in den Ohren lag? War der Käsehändler etwa schon da - ohne sich dem Bauer gezeigt zu haben? Möglicherweise bricht aber auch das Schelmische in ihm durch, einmal etwas Unerhörtes zu unternehmen, denn von dort oben sieht man all die Ebenen, die Podolische, ja sogar Wolhynische gen Nordosten, all die ungarischen im Südwesten, und dann - selbst für einen Tiefseefisch zu weit weg - das immense Sibirische Tiefland, die alle so riesig und unermesslich sind, dass es des speziellen Appetits eines Herrschers bedarf, sie zum einen in seinen persönlichen Besitz zu bringen und zum anderen dann auch zu nutzen.
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Wie nun dem Menschen seinen Platz inmitten all dieser altehrwürdigen Schönheiten in einem Film zuweisen? Endlos mögen darob die Nöte des Kinematographen werden. Eine Möglichkeit der Rettung zeigt der grosse russische Regisseur Andrei Tarkowskij auf, der in seinem Vermächtnis "Die versiegelte Zeit" von einem kurzen Film Pascal Aubiers erzählt, der aus einer einzigen Einstellung besteht. Anfangs wird eine majestätische Natur fixiert. Ein kleiner Punkt verwandelt sich dann in einen Menschen, der im Gras am Hang eines Hügels schläft. Jetzt wird der Zeitablauf beschleunigt, von Neugierde getrieben: Die Kamera schleicht heran, um festzustellen, dass er nicht schläft, sondern tot ist. Einige Momente später erkennt man gar, dass er erschlagen worden ist, hier inmitten der ruhigen und grossartigen Umgebung - ganz der Natur des Menschen folgend, kommt einem in den Sinn.

Es mangelt dem Film nicht an Szenen, die andere oder obere Seite des Menschseins aufzuzeigen: Von leisem Humor ist der Schnitt diesmal geprägt. Am Karfreitag sagt Stefan, heute ist Jesus gekreuzigt worden, derweil Ioan ausgestreckt auf dem Bett liegt und über die zu schwache Batterie seines Kofferradios lamentiert. Oder dann, wie um das sanftmütige Bild vom Leben, das auf jeden Tod folgt, heraufzubeschwören, fährt die Kamera der Szene des Abendmahls auf dem Wandteppich im Hintergrund entlang, währenddem die vielköpfige Kinderschar des Nachbarn auf Obcina vorgestellt wird.
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Eine Freundin zu finden, die sich als Ehefrau um das liebe Vieh und die Einbringung des Emds zu bekümmern hat, scheint ziemlich schwierig zu sein, selbst wenn das Wollen dem Ioan in den Sinn kommen sollte. Nicht umsonst zeigt er seiner Mutter Bilder einer prospektiven Braut zwischen den Kühen im Stall. Unter Tiefseefischen, zum Vergleich, ist die Brautschau ein fast aussichtsloses Unterfangen! Wenn darum beispielsweise ein Rutenangler ein Weibchen erschnüffelt hat, verbeisst er sich in sie und lässt nie mehr los. Ihm ist dies ein leichtes, da das Männchen cirka 1 Perzent des Körpergewichts des Weibchens ausmacht und man deswegen die zwei Fische für unterschiedliche Spezies hielt, am Anfang wenigstens. Als die Wahrheit an das Tageslicht gebracht wurde, gab es dann ein grosses aah! und ooh! in der Forscherwelt! Die beiden Blutkreisläufe verbinden sich mit der Zeit, so dass das Männchen fortan nichts mehr fressen kann - das Flüssige muss ihm genügen.

Es ist halt etwas anderes - um es ganz klar beim Wort zu nennen -, ob der Bauer sich, wie in der guten alten Zeit, dem Equilibrium im Sauerkraut geräuschvoll hingibt oder ob er zu oft in die Flasche guckt, nicht bloss, um zu sehen, wie spät es ist. Denn letzteres ginge beileibe auch billiger. Ein einziges Mal zu viel geguckt, und schon kentert sein ganzer Berg wie ein vollgelaufenes Schiff. Alle, die das Pech haben, in gerade diesem Moment auf dessen Rücken zu liegen, schweben, dem Gesetz der Schwerkraft folgend, auf den Boden des Meeres und müssen dort nach der Gewohnheit der Tiefseefische den Winter überdauern. Dass solches dem menschlichen Organismus nicht zuträglich sein kann, das leuchtet jedem ein - sicherlich auch dem, der die Uhr vergessen hat.
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Für den Regisseur stellt sich immer die Herausforderung, zuerst Szenen zu drehen, die eindeutig seine Handschrift zeigen, um sie schliesslich zu einem einheitlichen Ganzen zusammenzufügen - gleich einem Schreibenden. Tarkowskij hat sich eingehend mit dieser Frage auseinandergesetzt: "Die Zeit läuft im Film nicht dank, sondern trotz der Schnittmontage ab. Das ist der in der Einstellung fixierte Zeitablauf. Und genau den muss der Regisseur in den Teilen einfangen, die er vor sich auf dem Schneidetisch liegen hat. Gerade die in einer Einstellung festgehaltene Zeit diktiert dem Regisseur das jeweils entsprechende Montageprinzip. Die eine Einstellung durchlaufende zeitliche Konsistenz, die wachsende oder 'sich verflüchtigende' Spannung der Zeit, nennen wir den Zeitdruck innerhalb einer Einstellung. Demnach ist die Montage eine Form der Vereinigung von Filmteilen unter Berücksichtigung des in ihnen herrschenden Zeitdrucks. Wie spürt man aber die Zeit einer Einstellung? Das Gespür stellt sich ein, wenn hinter dem sichtbaren Ereignis eine bestimmte bedeutsame Wahrheit fühlbar wird. Dann, wenn man klar und deutlich erkennt, dass sich das, was man in der Einstellung sieht, nicht in dem hier visuell Dargestellten erschöpft, sondern lediglich etwas sich jenseits dieser Einstellung unendlich Ausbreitendes andeutet, wenn es auf das Leben hinweist."
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Weiss Ioan, der Jüngste der Cuts, was das Zeichen auf seiner Kappe, was "Nike", bedeutet und was ihm konsequenterweise an die Oberfläche gebracht werden könnte? ???? ist nichts weniger als die Göttin des Sieges der Alten, "Victoria" bei den Römern genannt und von jedermann herbeigesehnt. Diese Nike wäre auch zu allem bereit. Sie würde selbst im tiefsten Winter den Berg hinuntersteigen und wieder hinaufstapfen, nur um etwas anderes als einen Berg zu sehen. Aber spätestens auf dem Rückweg trennte sich das Schicksal der Götter von dem der Menschen, denen das allzu Menschliche oftmals zur Hypothek wird und die dann meinen, wie ein Tiefseefisch über die Stränge schlagen zu können und das Ergebnis dann langsam zu verdauen. Wenn dieser sterbliche Mensch jetzt glaubt, sich nur für ein Viertelstündchen einfach so in den warmen Schnee zu legen, dann verlässt ihn die Göttin sicher nach einer Minute schon, denn sie schwebt ihrer Gewohnheit nach so lange über den Parteien, bis sich eine dem Sieg zuwendet und sie sich sogleich auf seine Seite schlägt.
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Auf Obcina kennt man andere Lustbarkeiten: Der Hirte spielt das Lied vom Alpabzug auf seinem Marmaroscher Olifanten, derweil die Kinderlein sich die Kuhglocken umgehängt haben und auf der Wiese herumtollen. Mögen die Nachbarn über den Cut Stefan sagen, was sie wollen - sein Schicksal wird in diesem Film versiegelt, so wie es in diesem Augenblick in diesem Essay passiert. Wie in einem dieser prachtvollen ägyptischen Totenschiffe wird es ihn nun über alle Zeit und alle Tiefseefische dieser Erde dahintragen. Dort unten mag es sich zwar immer gleich dunkel, gleich kalt und gleich nass anfühlen, der Mondaufgang mag vom Sonnenuntergang nicht zu trennen sein und alles sich wie hunderttausendfach vervielfältigtes Bauerntruhendunkel anfühlen, aber auf diese Weise bleibt sein Schicksal untrennbar mit dem Ruhm des Kinematographen und den Ambitionen des Essayisten verknüpft. Gleichermassen kommt das Ganze in unterschiedlichen Metren zur wohlverdienten Ruhe - noch einmal Tarkowskij: "Seine Individualität zeigt ein Regisseur vor allem durch sein Zeitempfinden, durch den Rhythmus. Der Rhythmus schmückt sein Werk mit stilistischen Charakteristika. Der Rhythmus wird nicht erdacht, nicht willkürlich, auf rein spekulative Weise konstruiert. Im Film kommt der Rhythmus organisch auf, in Entsprechung zu dem seinem Regisseur eigenen Lebensgefühl, entsprechend dessen 'Zeitsuche'. Ich habe sozusagen die Vorstellung, dass die Zeit in der Einstellung unabhängig und mit eigener Würde ablaufen muss. Nur dann finden die Ideen in ihr ohne übereilte Unruhe Platz." Solche Worte wirken wohltuend: Denn es gibt Dinge, die der Tiefseefisch garantiert nicht kann: Noch einen Film drehen - noch ein Buch schreiben - noch einmal nach der Violine verlangen - noch einmal geigen wie der Teufel persönlich - noch einmal sich hinlegen - dann aber wie der Indianer zur ewigen Ruhe. Wetten wir?