Und ist er noch so klein - aus einem Baum wird stets ein Baum: Notwendiges zum Leben und Wichtiges zu Björn Reinhardts Filmwerk "Mehr oder weniger" (Auszug)

© Ron Philippe A.D. MMVIII


Die Maramures hat an der Entfaltung der Menschwerdung erst spät teilgenommen, beansprucht dafür aber das Ganze für sich. Sitzt man so da vor seinem Historischen Atlas und lässt die Jahrtausende vor sich passieren, hält man vergebens nach einer Farbe Ausschau, welche dieses Krähennest des nördlichen Karpatenbogens auch nur gestreift hätte. In der Steinzeit mieden nicht nur die Menschen, sondern selbst Bäume und Sträucher die herbe Tundra. Die Indogermanen gingen darum herum, dann die bronzezeitlichen Grosswanderungen.
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Aber erst Rom vermochte mit seiner Kaiserlichen Provinz Dacia, wenn es sich in Dacia Superior auf die Zehenspitzen stellte, einen Blick in dieses Waldland zu erhaschen. In meinem Atlas sind es schliesslich die Gepiden, ein Stamm asianischer Christen, welche die Maramures per Ende des Weströmischen Reiches um 476 n.Chr. mit einem Hauch von Russischgrün tingieren.
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Der erste Mensch der Maramures war Grigore. Für den Fall, dass ihm etwas zustossen sollte, sagt er von sich selbst: "Ich würde es nie zum Nachbarn schaffen, nur Gott ist mir näher." Am Montag der Schöpfung entstand sein Häuschen, dann am nächsten Tag das Streifchen Kartoffelland, darauf die Hügel, dann der Bach, und, am vorletzten Arbeitstag, die Bäume und Grigore selbst am Samstag.
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Ja, viel kann man über sich selbst lernen, sobald man sich getraut, über den Rand des eigenen Kosmos zu schauen. Die Kelten, wenn sie es bis in die Karpaten geschafft hätten, würden auch an diesem Ort zuerst auf die Bäume gehorcht haben, denn bei ihnen war des Menschen Bestimmung an einen charakteristischen Baum gehängt. Wenn man das weiss, dann ist es einfach zu erkennen, wessen Kind jemand ist: Grigores Geburtstag ist der 28. an Ostern, aber für den Monat kann er sich nicht verborgen, da Ostern "mal im Mai, mal im April" ist.
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Was anderes macht Grigore, wenn er uns seine Welt im Film zeigt und uns damit überaus reich beschenkt? Der Keim des Grossen, das wir hier in so reiner Ausprägung sehen, wäre also schon im Tag seiner Geburt gelegt, falls sein Geburtstag auf diesen Tag fallen würde, und muss sich in der Folge nur noch entwickeln. Vielleicht steht er jetzt gerade inmitten der Kartoffelernte und fragt sich, ob es dieses Jahr mehr oder weniger geworden sei. Aber auf jeden Fall wird er sich am Gegebenen erfreuen, auch dann, wenn er die Colorado-Käfer von den Knollen lesen wird, die ihm die Frucht wegfressen wollen. Gleich werden ihm, dem alle Tiere seines Waldes seit dem Ausbleiben der Jäger nur so um den Kopf herum springen, sicherlich die sogenannten Tierprozesse in den Sinn kommen, wie sie im 15. Jahrhundert beispielsweise im westlichen Teil der Schweiz, genauer: in der Diözese Lausanne, aktenkundig geworden sind.
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Ebenso regelmässig wurden die Schädlinge als Inkarnation des Bösen unter Androhung der Exkommunikation verurteilt, deren Vollstreckung man dem lokalen Klerus überliess, indem er im mindesten Prozessionen durchführte und Weihwasser versprengte. Grigore an der Kartoffel würde seine Käfer sicher nicht einfach zerdrücken - was für ihn das leichteste der Welt wäre -, sondern sie dem Lauf des hurtigen Flüsschens am Rand seines Kosmos überantworten; denn dieselbe Hand, die ihn leitet, wird auch sie leiten.
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Gott schuf, wie wir alle wissen, die Frau aus Adams Rippe - aber hier zu sagen, Nastaca wäre nach Grigore die erste Frau der Maramures, greift vielleicht doch etwas zu kurz, denn Grigore war einmal verheiratet. Nastaca selbst dagegen legt einen nicht unbedeutenden Stolz darauf, "von niemandem ein Glas angenommen" zu haben, und hat sich ihr Lebtag nie zu diesem Schritt entscheiden können.
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Nastaca weckt auf der anderen Seite ein grosses Unbehagen in uns selbst, wir, die wir uns vielleicht ein wenig Ungemach auf den Lebensweg wünschen, um dann das Glück, wenn es uns dann ankäme, auch sicher identifizieren zu können. Wer will schon dauernd im Glück schwimmen? Das müssen wir uns wirklich fragen: Was macht jemand, der nie ein Glück gesehen hat und vielleicht gar darum weiss, dass er es nie sehen wird? Anders gefragt: Was hat der, der nichts hat? Wie beispielsweise jemand, der sich bei Wind und Wetter unter die Trümmer seines Hauses lagert, wie ein Unbedarfter zur Sommerszeit unter einen Pflaumenbaum, um den Schatten zu geniessen? Da könnten auch, wie im Film, eintausend Millionen Ameisen, welcher ihrerseits Myriaden an Entsatztruppen aufbieten müssten, für diesen Menschen arbeiten, sie schafften doch nichts für ihn herbei. Und so bleibt - als Antwort auf die Frage - nur das, was man stets in sich selbst getragen hat: der Stolz, die Unbeugsamkeit und hiermit auch sein selbst erwähltes Verhältnis zu den Menschen und, darin eingesperrt, zu Gott. Es gehört eine besonders starke Kraft dazu, das, was man hat, als das zu akzeptieren, was man behalten wird: "Bin klug wie ein Herr, kein Mensch kann mich betrügen."
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Wer am 28. Mai Geburtstag feiert, dem sprechen die Kelten untrüglich die Esche zu. Sie gehört zu den höchst aufwachsenden Bäumen; ihr Holz ist hart, zäh und elastisch und wurde besonders gerne für Lanzen und Bogen genommen. Ihnen wird eine besondere Macht über das Wasser zugesprochen - ihre langen Wurzeln sichern zuverlässig jede Uferböschung. Menschen der Esche sorgen sich viel um das Morgen und sind stets bemüht, ihre Lebenssituation zu verbessern und für ihre Identität und Unabhängigkeit sind sie bereit, alles aufs Spiel zu setzen. Die Esche lässt sich fast jede Misshandlung gefallen, sei es dass man ihr eine andere Gestalt als Hänge- oder Traueresche aufoktroyiert, sei es dass man ihr im Sommer alles Laubheu abschlägt, um es dem Vieh im Winter zu verfüttern. Kaum einer kann unten so lange durchhalten, bis er oben angelangt ist - aber erst in der Höhe entfaltet er sich voll.
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Grigores Sicherheit bezüglich der möglichen Ostermonate ist ein deutlicher Beleg, dass die Ostkirchen, sowohl die Gläubigen der Mehrheit der orthodoxen Kirche als auch die kleine Schar der mit Rom unierten katholischen Kirche, den Grossen Sprung zum Gregorianischen Kalender nicht mitgemacht haben, und für alle Berechnungen vorweg dreizehn Tage dazuzuzählen sind und Ostern bei ihnen verschoben und später stattfindet. Gewisse Dinge finden nie statt: Nastaca hat nie aufgehört, vor allem mit sich selbst zu hadern - memento: "Ich habe von niemandem ein Glas angenommen!" - und legt dabei eine beinahe schon Kohlhaassche Grösse an den Tag. Äusserst schmal ist der Grat, der uns davor trennt, "einer der rechtschaffensten zugleich und entsetzlichsten Menschen seiner Zeit" zu werden! Nicht viel fehlte, und der Zeiger der Waage würde bald zugunsten dieser, bald zugunsten jener Richtung ausschlagen. Recht getan ist dann oft schon halb recht gewesen. So werden die Kreuze bei Nastaca doppelt genommen: "So müssen die Kreuze gemacht werden: Auf dem Mehl, wenn man es siebt, wenn es in den Sack kommt, auf dem Maisbrei, und auf dem Brot muss man es auch so machen."
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Am Tage ihres Begräbnisses werden ihre eigenen Aussagen und die der Verwandten in die Waagschale gelegt. Ebenso genau abgemessen wird die Totenkerze: sie hat der Länge der Verstorbenen zu entsprechen, wird aufgerollt und auf dem Sarg angebrannt, um uns an die eigene Endlichkeit zu erinnern. Aber wer wird den Waagschalen das rechte Gewicht zumessen? Grigore geht jeweils nach dem Gottesdienst gleich weiter, denn "was soll ich bleiben und hören, wie sie schlecht übereinander reden? Einer über den anderen, und jeder weiss es besser."
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Meist haben wir nur schon genug damit zu tun, herauszufinden, was wir davon halten sollen, was uns Tag nach Tag anfällt: Grigore hat den Eintritt Rumäniens in die Europäische Union zu bedenken und prognostiziert für sich, "es bedeutet nichts Gutes." Bei Nastacas Gräbtessen jedenfalls sind die Töpfe mit der Suppe noch herrschaftlich gross - bis zuoberst an den Rand gefüllt! Man bekommt gleich die grösste Lust, eine ganze Woche lang nur den Suppen zu lauschen und ihnen dabei das Geheimnis zu entdecken, nach ihrer Gewohnheit Heerscharen zu verköstigen.
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Einprägsam wird uns im Film vor Augen geführt, dass Moral, und nicht Länge unserer Erscheinung, Massstab und Grösse unseres Lebens darstellen sollte. Denn so wie es immer noch einen Himmel über dem Himmel gibt, so findet man immer noch kleinere Lebewesen als etwa die Bäume oder Menschen oder Ameisen. Von den Pilzen und Viren haben wir gelernt, dass sie auf Bäumen die sogenannte Zweigsucht auslösen können - die Augen des Baumes meinen dann, jetzt austreiben zu müssen und bilden allenthalben dichte Hexenbesen, Bäume auf dem Baum, eine kleinere Variante der Schöpfung, aber mit allen morphologischen Necessitäten wie Unempfindlichkeit gegen Frost, Langmut in stechender Sonnenglut oder Flohlocken über ein mildes Lüftchen ausgestattet. Gerne nimmt der Mensch sich ihrer an, entfernt sie vom angestammten Ort und veredelt sie in einem kleinen Trog zu einem staunenswerten Bonsai: So klein und doch ein Baum! Normalerweise gibt man den Namen zum Fundort hinzu - also vielleicht ein Walnussbaum von der Art Juglans regia Linnaeus "Maramures"! Föhren, so hört man, seien gerade deshalb dafür prädestiniert, weil sie sich in einem winzigen Zuhause langsam entwickelten und den Beschränkungen anpassten.
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Ebenso wechselt sich Tod mit Leben und Leben mit Tod ab. An der Beerdigung spricht der orthodoxe Priester: "Alle vom Herrn geschaffenen Geschöpfe sind erschaffen worden, dem Menschen zu dienen." Grigore muss alle Lebensmittel verstecken, da ihm sonst die Mäuse zu Hause "alles wegfressen - sie fressen sogar meine Kartoffeln!" Bevor Nastacas Sarg in die Erde gelegt werden kann, ist noch ein - nicht zween! - Igel aus der Grube zu entfernen. Ein Kirchgänger dreht das kugelige Tier herum, lacht und ruft dazu: "Es ist ihre Seele!" Brehm, der uns die Tier so nahe bringt, indem er sie mit menschlichen Eigenschaften erklärt, hat auch Genaues über unseren Erinaceus europaeus europaeus Linnaeus 1758 zusammengetragen.

"Der Igel ist ein drolliger Kauz und dabei ein guter, furchtsamer Gesell. Wenig zum Gesellschafter geeignet, findet er sich fast stets allein oder höchstens in Gemeinschaft mit seinem Weibchen. Unter den dichtesten Gebüschen, unter Reisighaufen oder in Hecken hat sich jeder einzeln sein Lager aufgeschlagen und möglichst bequem zurechgemacht."
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Drei Mal hat Nastaca den Polizeichef nach den Dieben ihrer Maisvorräte gefragt und ihn aufgefordert, an einer bestimmten, von ihr bezeichneten Stelle nachzuforschen, "und unsere Speicher füllen, damit wir Menschen immer zu essen haben, oh, du guter Herr" hat sie bei sich gebetet. Drei Mal hat sie gefragt: "Wollen Sie suchen? Wollen Sie suchen? Wollen Sie suchen?" und gewünscht hat sie sich, zu hören: "Ja, ich will, bring mich dahin, wo ich sie suchen muss!"

Die Drei ist eine zutiefst biblische Zahl, drei Mal wird jedem Zaudernden Gelegenheit gegeben, sich zu bekennen. Drei Mal offenbarte sich Jesus, der Auferstandene, den Jüngern, das letzte Mal am See von Tiberias, und drei Mal ist Nastaca abgewiesen worden.
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Nastaca hebt ihre Stimme: "Ich habe keine Geschwister mehr, als wäre ich vom Himmel gefallen", und Grigore berichtet mit desperatem Blick vom Wasser, das dem Rand seines Kosmos entlangeilt: "Der Fluss ist gross und schrecklich; es hat keinen Sinn, sich da durchzukämpfen". Mir wird berichtet, es seien Funde aus der alten Steinzeit in der Maramures gemacht worden. An die grosse Zeit vor dem Beginn muss ich denken: was wäre, wenn ich mit der Aufzählung in meiner Geschichte danebenläge? Ich sage bloss, um so besser, denn in allem kann ich mich schlecht verschätzt haben. Denn was ist uns dieses kleine Mass an Subjektivem, wenn wir durch das genaue Beobachten des Vorbildes anderer Menschen Weisheit für uns gewinnen können? Besonders dann, wenn wir an ihnen sehen, dass in der Verzagtheit schon der Grundstein zum Mut gelegt ist. Das müsste doch mehr wert sein als vieles, was uns lieb ist. Und wer, wenn nicht der gebeutelte Ijob des Alten Testaments, wäre würdiger, davon Zeugnis abzulegen, vereinigt in der wirklich schönen Einheitsübersetzung mit den alterslosen und starken Worten?

"Wohl gibt es einen Fundort für das Silber, eine Stätte für das Gold, wo man es läutert. Eisen holt man aus der Erde, Gestein wird zu Kupfer geschmolzen. Es setzt der Mensch dem Finstern eine Grenze; er forscht hinein bis in das Letzte, ins düstere, dunkle Gestein. Stollen gräbt ein fremdes Volk; vergessen, ohne Halt für den Fuß, hängt es, schwebt es, den Menschen fern. Die Erde, daraus das Brotkorn kommt, wird in den Tiefen wie mit Feuer zerstört. Fundort des Saphirs ist ihr Gestein, und Goldstaub findet sich darin. Kein Raubvogel kennt den Weg dahin; kein Falkenauge hat ihn erspäht. Das stolze Wild betritt ihn nicht, kein Löwe schreitet über ihn. An harte Kiesel legt er die Hand, von Grund auf wühlt er Berge um. In Felsen haut er Stollen ein, und lauter Kostbarkeiten erblickt sein Auge. Sickerbäche dämmt er ein, Verborgenes bringt er ans Licht. Die Weisheit aber, wo ist sie zu finden, und wo ist der Ort der Einsicht? Kein Mensch kennt die Schicht, in der sie liegt; sie findet sich nicht in der Lebenden Land. Die Urflut sagt: Bei mir ist sie nicht. Der Ozean sagt: Bei mir weilt sie nicht. Man kann nicht Feingold für sie geben, nicht Silber als Preis für sie wägen. Nicht wiegt sie Gold aus Ofir auf, kein kostbarer Karneol, kein Saphir. Gold und Glas stehen ihr nicht gleich, kein Tausch für sie ist Goldgerät, nicht zu reden von Korallen und Kristall; weit über Perlen geht der Weisheit Besitz. Der Topas von Kusch kommt ihr nicht gleich, und reinstes Gold wiegt sie nicht auf."