Der singende
Tisch
Überall auf
und nirgend an
Wie das Wiesengras
im Wind
War einer Hersch,
Fuhrmann
Hirtenjunge im Novemberschnee
Das Kind vom Eiszapfen

Es lebte einmal ein reicher Händler, der seine Waren in den verschiedensten Ländern verkaufte. Er war Monate, manchmal sogar Jahre lang unterwegs. Derweil blieb seine Frau und seine Kinder zu Hause. Vor der Abreise versprachen Mann und Frau jedesmal, einander treu zu sein.
Einmal kam der Mann nach Hause und fand im Haus ein Wickelkind.
"Wem gehört es?" fragte er.
"Uns!"
"Wie uns, ich weiß ja nichts davon!"
"Hör zu, was ich dir sage. Du weißt, das ich dich sehr gerne habe. Als du das letzte Mal weggegangen bist, habe ich so eine Sehnsucht nach dir gehabt, daß mich nichts mehr im Haus hat halten können. Ich ging hinaus in den großen Wald. An den Bäumen hingen Eiszapfen. Ich habe einen abgebrochen und daran gelutscht.. Dabei habe ich nur an dich gedacht und bin in anderen Umständen geblieben. Nach neun Monaten habe ich dieses Bübchen geboren."
Der Mann hörte zu, sagte kein Wort und sprach nie wieder davon.
Als das Kind ungefähr zwölf Jahre alt war, sagte der Mann:
"Hör Frau, morgen muß ich wieder mit Waren wegfahren und ich möchte auch dieses Kind mitnehmen, damit es auch ein Stück Welt sieht. Groß genug ist es ja schon dafür."
Der Frau hat dieser Vorschlag nicht gepaßt, aber sie wollte ihm den Vorschlag nicht abschlagen.
"Wirst es halt mitnehmen, aber sorg auf den Jungen!"
"Wie soll ich nicht sorgen, es ist doch unser Kind", sagte der Händler und fuhr weg.
In der ersten großen Stadt gingen sie in ein Gasthaus um zu essen. Dem Kind bestellte er Süßigkeiten und sagte zu ihm:
"Bleib schön hier und iß dich satt. Ich gehe nachschauen, ob die Waren schon abgeladen sind, und danach komme ich zurück."
Zurück kam aber kein Mensch mehr. Der Mann vergaß das Bübchen absichtlich und fuhr weiter.
Nach vielen Monaten gelangte er wieder nach Hause. Die Frau hatte schon große Sehnsucht nach dem Kind und erwartete es ungeduldig. Als sie merkte, daß ihr Mann alleine war, fragte sie nach dem Jungen.
"Ach, hör auf damit, ich kann mir kaum noch helfen! Du weißt, daß wir bei großer Hitze weggefahren sind. Auf dem Schiff habe ich dem Kind gesagt, es soll nicht aus seinem Zimmerl herauskommen, denn es könnte ihm etwas passieren. Es hat aber nicht gefolgt, und als ich weggegangen bin, um nach meinen Waren zu sehen, ist der Junge aus dem Zimmer in die Sonne gekommen und ist geschmolzen. Ich habe nur noch seine Kleider, das Hütchen und eine Wasserlache gefunden."
"Gott im Himmel!" rief die erschrockene Frau.
"Warum wunderst du dich?" tröstete sie der Mann, "es war doch von einem Eiszapfen."

Maria Brandis (80), Bäuerin, Oberwischau, 1986

Text aus: "Der singende Tisch. Zipser Volkserzählungen" von Anton-Joseph Ilk
Dacia-Verlag Cluj-Napoca 1990